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Administrative Versorgungen in der Schweiz 1930-1981, einerseits eine Studie, andrerseits ein Manifest der Gewalt

Studie Administrative Versorgung

Eine unabhängige Expertenkommission untersuchte die fragwürdige Praxis der administrativen Versorgung im Auftrag des Bundes von 2016-2019. Die Schlussfolgerungen der Forschergruppe sind wichtig und zeigen die gravierenden Folgen dieser Entrechtung. Während fünf Jahrzehnten wurde Unrecht als scheinbar gültiges Recht ausgegeben. Diese Willkür hat in Staat und Gesellschaft Opfer und Spuren bis heute hinterlassen. Das perfide System der administrativen Versorgung war politisch, juristisch und administrativ ein Desaster. Die Doktrin dahinter basierte auf Grausamkeit statt Fürsorge. Sie war ein Gemisch aus Bösartigkeit, Sturheit, Dummheit und Inkompetenz. Kurz: Das System war rückständig, rudimentär, repressiv, rigid, reaktionär und rassistisch.

Was heisst das im Einzelnen?
Rückständig

bedeutet vor allem, den wirklichen Bedürfnissen der Zeit nicht gerecht. Gilt für die Chefs, die Gebäude, das Personal, das Prozedere und die herrschende Inkompetenz. Und geradezu unglaublich das Wirrwar der kommunalen und kantonalen Strukturen und Zuständigkeiten. Ein bizarrer Flickenteppich mit Tausenden von Mängeln.

Rudimentär
zeigt sie sich in der minimalen Infrastruktur, den beschränkten Mitteln, der desolaten Rechtslage, der Argumentation und dem Vokabular in den überlieferten Akten, den Aktennotizen, auch der darin dokumentierten Geisteshaltung, den fragwürdigen Entscheiden, den weitgehend inexistenten humanitären Ansprüchen.

Repressiv
Repression zeigt sich durchgehend in der Sozialgeschichte. Verheerend war der Föderalismus, weil Gemeinden, Kantone, Vormundschaft nach eigenem Gusto verfuhren. Ein konfuses Puzzle punkto Verfahren, Versorgung, Interpretation, der lückenhaften und oft einseitigen Akten. Dazu kam die weitgehend fehlende Information.

Rigid
wird deutlich durch die dem Militär und Absolutismus entlehnten Instrumente Ordnung, Strafe und Zwang. Es ging vor allem um Disziplinierung, was in vielen Fällen das Brechen des Willens und die sklavische Unterordnung bedeutete. Man sprach zwar von Besserung, sie blieb aber fast durchwegs auf der Strecke. Dazu kam die strenge Briefzensur. Man schreckte selbst nicht vor Sterilisation und Kastration zurück. Auch die vielen mündlich überlieferten Berichte von Suiziden und Suizidversuchen sind nur sehr mangelhaft dokumentiert. Und bei der Zwangsadoption ist der massive Druck gegenüber den ledigen Müttern kaum schriftlich aber vielfach mündlich belegt.

Reaktionär
ist eine rückwärtsgewandte Geisteshaltung. Statt vorausschauend hielt man stur an der fragwürdigen Praxis mit Drohungen, Einschüchterungen, Massregeln, Strafen fest. Und natürlich die fast generelle Rechtsverweigerung. Statt diese Menschen zu befähigen und zu ermutigen, erniedrigte man sie mittels Züchtigung, Ausbeutung und psychischen Terror bis hin zur physischen Vernichtung durch ständige körperliche Überforderung und Mangelernährung.

Rassistisch
Rassismus ist nicht auf die Hautfarbe oder eine Ethnie beschränkt. Arme, Fahrende, Vagabunden waren meistens Schweizerbürger wurden aber unterdrückt und verfolgt bis hin zum Genozid.


Umfang und weitere Bilanz nach der Publikation
Die unabhängige Expertenkommission UEK Administrative Versorgungen wurde von Parlament und Bundesrat 2014 beschlossen. Ein Forschungsunternehmen mit 68 Betroffenen als Zeitzeugen, gegen 40 Wissenschaftlern unterschiedlicher Couleur, einem Fotografen, einem Filmemacher.

Während der dreijährigen Forschungsarbeit entstanden 9 kürzere und längere Berichte in Buchform im Chronos Verlag (mehr als 4000 Seiten Text), 1 Schussbericht, 1 Bildband mit Portraits und Text-Biografien, 1 Dokumentarfilm. Gesamtkosten 9,9 Mio. Franken. Im September 2019 wurde diese umfangreiche Recherche der zuständigen Bundesrätin mit den offenen Fragen und Empfehlungen der Beteiligten übergeben. Die in der Recherche teilweise erfassten Heime/Institutionen im Zeitraum 1933-1981 belaufen sich auf 648.

Untersucht werden konnte auch aus dem zum Teil ungenügenden Datenmaterial nur ein Teil der möglichen, nötigen Themen. Der Fokus der Untersuchungen war deshalb begrenzt.

Nach wie vor bedenklich oder sogar fahrlässig waren die Stellenbesetzungen, die mangelhafte oder meistens sogar fehlende Kontrolle in Strafanstalten, Heimen und weiteren Institutionen. Das damals übliche Regime beschränkte sich weitgehend auf Zwangsarbeit, Ausbeutung, Drill und Zensur. Die administrativ Versorgten hatten kaum Rechte. Rechtsmittel wurden missachtet, verweigert, hintertrieben. Ermutigung und Befähigung als wichtige Besserungskonzepte fehlten. Die sogenannten Trinkerheilanstalten hatten weder die dafür notwendigen Fachleute noch entsprechende Programme.

Zunächst besteht die Hauptfrage nach der Lesbarkeit dieser Daten. Wie können die umfangreichen Erkenntnisse der Fachleute einem breiteren, heutigen Publikum vermittelt werden?

Wer liest diese über 4000 Seiten in teilweise 4 Sprachen? Ist das wissenschaftliche Vokabular für den Durchschnittsbürger attraktiv, verständlich?

Was sind die weiteren Schritte? Zahlreiche Forschungslücken wurden entdeckt, und viele offene Fragen harren der Beantwortung.
Welche Konsequenzen hat die damalige mehrfache Misswirtschaft ökonomisch, juristisch, gesellschaftspolitisch?

Wie steht es mit der Staatshaftung, weil die Zehntausenden der Opfer dieses Zwangssystems körperlich, psychisch und geistig geschädigt wurden?

Werden die Empfehlungen umgesetzt, wie und in welchem Zeitraum?

Fast völlig vergessen wurde, dass die blinden Flecken der Vergangenheit bis heute nachwirken.

Text: Walter Zwahlen