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Armes Entlebuch

Armut war schon immer eine Gratwanderung. Ein Leben geprägt von Hunger, Mangel und Verzicht. Dazu kam die soziale Ausgrenzung, die Beschneidung der kümmerlichen Freiheit, vielfaches Unrecht in einer rückständigen Gesellschaft mit einer rigiden Moral und unbarmherzigen Praxis. Der Textausschnitt ais dem Buch „Gratwegs ins Entlebuch“, aus dem Rotpunktverlag zeigt dies am Beispiel des Luzerner Entlebuchs.

Gratwegs ins Entlebuch

Bis ins 20. Jahrhundert gab es im Entlebuch viel Armut. Die Säuglings- und Kindersterblichkeit war gross, Bettler zogen durch die Dörfer und Verdingkinder arbeiteten für ihre Existenz. Im Jahr 1749 schätzte man die Zahl der wandernden Bettler im Kanton Luzern auf 6000. Die Luzerner Regierung versuchte, mit einer Vertreibungspolitik das Problem zu lösen. Landjäger stöberten die Landstreicher mittels breit angelegter Bettlerjagden auf. Man zerlöcherte ihnen die Pfannen und zerschlug ihr Geschirr.. Erwischte man sie zum ersten Mal, wurden sie geschoren. Beim zweiten Mal drohte man den Männern mit Galeerenstrafen und verprügelte die Frauen. Oder man brannte ihnen ein Erkennungsmerkmal auf die Stirn und spedierte sie an die Grenze. Jene, die nicht mehr laufen konnten, brachte man mit Pferdefuhrwerken ausser Landes oder in ihre Heimatgemeinde.

1753 wurde das Landvolk aufgefordert, die Landstreicher mit Gewehren, Dreschflegeln, Mistgabeln, Zaunpfählen und Hacken zu vertreiben. Besonders schonungslos ging man gegen die Zigeuner vor. Die Armut nahm vielen Kindern die Lebensperspektive, sofern sie die ersten Jahre überhaupt überlebten. Zwischen 1700 und 1750 starben im Entlebuch von 100 geborenen Kindern 22 im ersten Lebensjahr. Bis 1850 ging die Zahl auf 18 zurück. Die mittlere Lebenserwartung betrug zu Beginn des 19. Jahrhunderts 39,8 Jahre. In keinem Amt des Kantons gab es mehr Waisenkinder als im Entlebuch: 28 auf 1000 EinwohnerInnnen.

Immer um die Weihnachtszeit, bis 1914, wurden die Buben und Mädchen am „Kindermärit“ den Verdingeltern zugeteilt, in einzelnen Gemeinden entschied das Los. Für weniger als 10 Rappen am Tag waren sie den Verdingeltern billige Arbeitskräfte.. Einzelne hatten Glück und wurden gefördert. Andere wurden geistig wie körperlich vernachlässigt und kläglich behandelt. In Flühli, mit rund 1600 Einwohnern, wurden zwischen 1861 und 1883 jährlich im Durchschnitt 47 Kinder verdingt. Doch neben Kindern und Bettlern waren auch ganz normale Bürger von der Armenkasse abhängig. Um 1850 war jeder vierte Entlebucher armengenössig. Zur materiellen Not kam noch die soziale Ausgrenzung hinzu. Im Entlebucher Anzeiger von 1885 war zu lesen: „Eines allen menschlichen Gefühlen Hohn sprechendes Missbrauches sei hier besonders gedacht. Ich meine das von der Kanzel herab zu erfolgende Verlesen der Notarmen. (…). Dort an der der kalten Kirchenmauer kauert, vor Frost zitternd eine arme abgemagerte Frau. Zu Hause hungern mehrere kleine Kinder, deren Ernährer gestorben ist. Die Mutter arbeitet Tag und Nacht, um niemandem zur Last zu fallen, doch ihr geringer Verdienst langt nicht hin, die lieben Kinder zu erhalten und da sie sich zu betteln schämt, so bittet sie die Waisenbehörde um eine Unterstützung, welche ihr endlich auch zu Teil wird. Heute nun verkündet man der ganzen Gemeinde, diese arme Mutter sei waisenamtlich unterstützt, und sie kann zuhören und zusehen, wie mancher Hartherziger sich breit macht und schmunzelnd sagt: So auch diese muss ich steuern!“

Die Ursachen für die Armut versuchte vor 200 Jahren bereits der Escholzmatter Pfarrer und Gelehrte Franz Josef Stalder zu ergründen. Ein Unterschied zum Emmental mit seinen reich verzierten Bauernhäusern war das Erbschaftsrecht. Im Emmental erbte der jüngste Sohn, mit Ausschluss der übrigen Söhne, das väterliche Gut, welches auf diese Weise unverstückelt und gross genug blieb, um eine Familie zu ernähren. Im Entlebuch hingegen forderte das Landrecht eine gleiche Verteilung des väterlichen Erbes unter den Kindern. Die kleinen Parzellen, die oft noch stark überschuldet waren, konnten eine grosse Familie nicht mehr ernähren. Als weiterer Grund nennt Stalder das Fehlen von Handel im Entlebuch, wo es kein anderes Gewerbe gab als mit Vieh, Pferden, Schafen, Schweinen, Käs und Butter. Dies konnte so lange gut gehen, als nur wenige Menschen vom Entlebucher Boden leben mussten. Als sich die Bevölkerung von 1650 bis 1800 beinahe verdoppelte, reichte der Boden für die notwendige Nahrungsmittelproduktion jedoch nicht mehr aus. Dazu wurde die Bevölkerung noch von Viehseuchen, Brandkatastrophen, Űberschwemmungen und Missernten heimgesucht. In keinem Amt des Kantons gab es so viele Konkursiten und Falliten. Viele entflohen der Not durch Auswanderung. Bevorzugt waren das Greyerzerland, wo die Entlebucher als Käser geschätzt waren, oder das Elsass, wo sie leicht fruchtbaren Boden erwerben konnten.

Doch auch im Entlebuch selber versuchte man die Misstände zu beheben. Pfarrer Elmiger, der in Schüpfheim seine Stelle antrat, lancierte diese Intiativen, um die Armut zu lindern. Er schuf neue Stellen für Heimarbeit durch Stroh- und Rosshaarknüpferei und in einer Seidenweberei. Die Erträge der Landwirtschaft verbesserte er durch Melioration, die Einführung des Obstbaus, die Verbesserung des Ackerbaus und anderes mehr. 1861 lancierte er die Idee eines Zweckverbandes der Entlebucher Gemeinden zur Errichtung einer „Korrektions- und Besserungsanstalt für gefallene Mädchen“. Darunter waren viele junge Frauen, die zum Gelderwerb als Dienstmägde in die Städte zogen und nach wenigen Jahren mit den „Früchten der Verführung und eines unsittlichen Lebenswandels“ nach Hause zurückkehrten. Im Oktober 1865 wurde die Anstalt in Schüpfheim eröffnet. Nach wenigen Monaten waren bereits 49 Bewohnerinnen mit 25 Kindern in der Anstalt einquartiert, die mit Zigarrenfabrikation, Strohhutflechten, Rosshaarknüpfen und Nähen beschäftigt wurden. Das Haus stand noch kein Jahr, als es im August 1866 „durch böswillige Brandstiftung zweier tiefgesunkener Insassen, die allem Besseren verschlossen blieben“ vollkommen eingäschert wurde. Sogleich wurde ein neuer feuerfester Bau erstellt und der Zweck der Anstalt ausgeweitet, indem nun auch Arme und Kranke Aufnahme fanden. Die Anlage, für 100 Betten konzipiert, war schon bald überfüllt. 1880 zählte man 125 Bewohner. 1913 wurden gar 364 Personen betreut. Da im Milieu des Armenhauses der Aufenthalt von schulpflichtigen und Kleinkindern nicht haltbar war, eröffnete man 1916 ein separates Kinderasyl, in welchem in den folgenden Jahren bis zu 180 Kinder lebten. In der Nachkriegszeit hat sich die soziale Struktur verändert, und die Anstalt wurde mehr und mehr in ein Pflegeheim umgewandelt. Seit dem Neubau von 1981 dient es vollumfänglich diesem Zweck.

Noch heute gilt das Entlebuch als eine der ärmsten Regionen der Schweiz. In einer Studie über regionale Einkommensdisparitäten in der Schweiz aus dem Jahre 1984 war das Entlebuch mit einem Pro-Kopf-Einkommen von 10’603 Franke am Ende der Rangliste. Ein wichtiger Grund dafür ist gewiss, dass auch heute noch überdurchschnittlich viele Erwerbstätige in der Landwirtschaft ihr Auskommen finden. Obwohl alle Gemeinden des Entlebuchs den Maximalsteuerfuss von 2,4 Einheiten haben, beträgt die Nettoverschuldung immer noch 8190 Franken pro Einwohner. Ein Wert der Doppelt so hoch liegt wie der kantonale Durchschnitt.

Aus „Gratwegs ins Entlebuch“, François Meienberg, Rotpunktverlag, 2002, Seiten 74-77