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Aufarbeitung

Aufarbeitung

Der Gerechtigkeit ist erst dann Genüge getan, wenn die Lebenden wissen, was die Toten gelitten haben.

Südafrika hat uns mit der Wahrheitskommission, welche Nelson Mandela ins Leben rief, eine Mustervorlage für eine umfassende Aufarbeitung beschert. Ähnlich wie das Apartheid-Regime basierte die zwangsweise Fremdplatzierung auf rigiden Gesetzen, Ausgrenzung, Verachtung, Diskriminierung und Gewalt. Dazu kamen Angst, Arroganz und Hass. Mandelas Truth and Reconciliation Commission TRC (Wahrheitskommission) war ein wirksames, visionäres Instrument für die Bewältigung der Vergangenheit. Ihr Verdienst war der umfangreiche Aufarbeitungsprozess. Leider verfügt die offizielle Schweiz noch über kein solches Modell, um aus dem Desaster der Fremdplatzierungspraxis herauszufinden und einen kollektiven Neuanfang überhaupt zu ermöglichen. Geht es doch auch da um Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die wissenschaftliche Aufarbeitung der Sozialgeschichte der Schweiz ist ein unverzichtbares Element darin.

Interviews:

Prof. Pierre Avvanzino

netzwerk-verdingt: Du hast in Deiner über 25-jährigen Tätigkeit als Erziehungswissenschafter und Historiker Fälle von exzessiver Gewalt in Pflegefamilien und Institutionen erlebt. Trotz Korrekturen gibt es weiterhin in einzelnen Heimen weiter solche Übergriffe. Wie kann man Leitung, Mitarbeiter, Betroffene und die Öffentlichkeit sensibilisieren, damit dies endlich aufhört?
Pierre Avvanzino: Die Aufarbeitung der Fremdplatzierung ist sehr wichtig, stellt aber eine äusserst komplexe Materie dar. Als grosser Nachteil erweist sich heute, dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung und als Forschungsgegenstand bis vor kurzem praktisch inexistent war. Es gingen dadurch viel Wissen und Fakten verloren. Weiter hinderlich ist der Widerstand konservativer Kreise, der Administration und einzelnen Archiven gegen diese Forderung. Geschichte ist auch Wahrheitsforschung. Dafür sind Zeitzeugen unerlässlic. Nur liess man sie bis vor wenigen Jahren kaum je zu Wort kommen. Es fehlt auch ein vollständiges Verzeichnis der verantwortlichen Institutionen der letzten 200 Jahre, sowie deren Statuten und Standorte. Weiter wiegt das Schweigen über diesen Teil der Sozialgeschichte und das Verschweigen der begangenen Verbrechen schwer. Wo nur die Hierarchie bestimmt, setzt sich das Machtgefälle besonders leicht als negatives Beispiel nach unten fort. Auch heute noch. Deshalb braucht es unbedingt Transparenz und Kontrolle. Jede Institution ist ein Sozial- und Sozialisationssystem, das nur als demokratisches Gebilde menschlichen Raum schafft. Aufarbeitung bedeutet deshalb auch ein Weg hin zu einer gerechteren Gesellschaft. Für die Betroffenen heisst das Heim und Heimat statt Hölle. Das geht uns alle an.


Dr. Thomas Huonker
netzwerk-verdingt: Für die von der Guido-Fluri-Stiftung finanzierte Studie „Kinderheime Schweiz“ hast Du zahlreiche Videoportraits und Toninterviews gemacht. Weiter erfolgte eine umfangreiche Akteneinsicht. Was erhoffst Du Dir von diesen Recherchen für die Bewältigung der Heimvergangenheit?
Thomas Huonker: Auch viele Heimkinder sind Opfer von Missbrauch, Ausbeutung durch Zwangsarbeit, psychische und körperliche Misshandlung geworden. Zudem sind viele von ihnen Mehrfachbetroffene, sie waren im Lauf ihrer Jugend oft auch Verdingkinder, Administrativ Versorgte, Zwangssterilisierte, Opfer medizinischer Medikamentenversuche. Die Heimkinder sind aber eine Opfergruppe, die lange zu wenig wahrgenommen wurde und deren Vertreter sich erst spät organisiert haben, vor allem im Verein Fremdplatziert (www.fremdplatziert.ch). Sie leiden heute noch unter Stigmatisierung und Schuldzuweisung. Das Projekt der Guido Fluri Stiftung hat das Bewusstsein für das gerade auch den ehemaligen Heimkindern angetane Unrecht geschärft. Es hat mir aber auch gezeigt, wie breit das Feld anstehender Forschungen sein wird. Betroffene meldeten und melden immer wieder Heime, von denen ich vorher noch nichts wusste. Die Geschichten ähneln sich vielfach, doch zeigt sich stets, welche Phantasie manche damals Leitende in Bezug auf demütigende, blossstellende, die Zöglinge gegeneinander ausspielende Formen von angeblichen "Strafen" entwickelten. In vielen Heimen war jahrzehntelang auch der ganz normale Betrieb schon erniedrigend und voll unnötiger Härten. Besonders freue ich mich über die allerdings selteneren positiven Berichte. Der Aktenzugang ist für ein privates Forschungsprojekt nicht immer leicht, da wird es noch sehr viel zu tun geben. Schlimm ist auch, dass etliche Heimbetreiber ihre Akten vernichteten. Die Konzentration auf die Dokumentation der Stimmen der Betroffenen ist ein sehr direkter, emotionaler und konkreter Zugang zur schweizerischen Heimgeschichte, in deren bisheriger Ausgestaltung (Jubiläumsschriften etc.) diese Stimmen oft fehlten. Ich danke allen Betroffenen, die mir ihre Geschichte erzählten oder dazu einen oder mehrere Fragebogen ausführten. Die Auswertung des Materials wird auch noch seine Zeit brauchen. Doch ich denke, die Internet-Plattform www.kinderheime-schweiz.ch ist jetzt schon durch die Vielzahl an Dokumenten, Berichten und Presseartikeln, die alle im Volltext abrufbar sind, eine wichtige Hilfe für viele Interessierte. Es soll dazu beitragen, dass diese Thematik nicht mehr verdrängt, verleugnet, vergessen und verschwiegen wird.


Prof. Martin Lengwiler
netzwerk-verdingt: Welchen Beitrag kann die Universität für die historische Aufarbeitung der zwangsweisen Fremdplatzierung leisten? Und welche Forschungslücken bestehen noch?
Martin Lengwiler: In den letzten Jahren wurden an schweizerischen Universitäten im Rahmen verschiedener Forschungsprojekte wichtige Vorarbeiten zur Aufarbeitung der Geschichte von Heim- und Verdingkindern im 19. und 20. Jahrhundert geleistet. Die bislang vorliegenden Erkenntnisse sind aber noch punktuell, es fehlt eine nationale Gesamtsicht und eine Einbettung in die schweizerische Zeitgeschichte. Wir wissen noch wenig über die typischen Gründe, die Behörden und Organisationen dazu brachten, bestimmte Kinder zu stigmatisieren und zu verfolgen. Das Ausmass der Fremdplatzierungen, im nationalen Rahmen und übers ganze 20. Jahrhundert, können wir ebenfalls noch nicht abschätzen. Einzelne Betroffenengruppen sind bislang kaum untersucht worden: Adoptivkinder oder Behinderte, die von Zwangsmassnahmen betroffen waren. Schliesslich fehlt ein Einblick in die biografischen Erfahrungen der Opfer, ihre individuellen Bewältigungsstrategien und die Auswirkungen ihrer Erfahrungen auf ihr soziales Umfeld.


Prof. Ueli Mäder
netzwerk-verdingt: Die Geschichte der zwangsweisen Fremdplatzierung ist gesellschaftspolitisch immer noch erst teilweise erforscht und deshalb weiter eine offene Wunde und Lücke im Geschichtsbild der Schweiz. Wie kann dieses Versagen und der daraus resultierende immense Schaden aufgearbeitet und dann konstruktiv umgesetzt werden?
Prof. Ueli Mäder: Ja, einzelne Studien liegen vor. Sie erhellen viel. Decken aber nicht das ab, was wir dem Schweizer Nationalfonds vorschlugen. Nämlich, ein ganzes Programm zu diesem Thema zu lancieren. So verbleichen Aktenberge weiter tonnenweise. Einzelne Personen ergründen immer wieder weitere Teilbereiche. Das ist erfreulich und noch mehr zu fördern. Eine gute Grundlage bietet die Nationalfondsstudie, die Loretta Seglias und Marco Leuenberger erarbeiteten. Rund 270 transkribierte Interviews sind im Zürcher Sozialarchiv vorhanden. Sie lassen sich unter neuen Gesichtspunkten auswerten. Zudem besteht ja noch die einmalige Chance, mit ehemaligen Verdingkindern selbst ins Gespräch zu kommen und ihre Anliegen aufzunehmen.

Interviews: Walter Zwahlen für den Verein netzwerk-verdingt und die Guido-Fluri-Stiftung

Ohne Fächer wie Literatur und Geschichte gibt es keinen Fortschritt
Geisteswissenschaften lehren uns, die richtigen Fragen zu stellen. Fragen helfen uns, die Welt zu verstehen. Wer innovativ sein will, muss eine Vorstellung von der Zukunft haben. Das geht nur, wenn man die Vergangenheit kennt. Geschichte handelt von Veränderungen. Von den Folgen der Veränderungen, von den Menschen, die sich verändern, sich gegen die Veränderungen wehrten oder darunter zu leiden hatten.
Drew Faust, Harvard Präsidentin NZZ vom 2.2.2014