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Bewegte Geschichte: 175 Jahre Stiftung Bächtelen in Wabern bei Bern

175 Jahre Stiftung Bächtelen

Zur Jubiläumsfeier der Stiftung Bächtelen ist ein Buch von Katharina Moser, Historikerin, und Thomas Brodbeck, Historiker, über die 175-jährige Geschichte des Heims erschienen. Man fragt sich allerdings, wieso es so lange ging, bis endlich eine solch unabhängige Studie möglich wurde, welche die dunklen Kapitel nicht mehr ausblendete. Von den 1920 bekannten über 300 Heimen sind bisher nur ein Bruchteil auf ihre Vergangenheit untersucht worden. Die Mehrzahl der existierenden Jubiläumsschriften der letzten 150 Jahre dieser Institutionen sind einseitige Loblieder. Die kritischen Töne fehlen in ihnen weitgehend. Nahezu gänzlich ausgeblendet ist Gewalt. Eigentlich eine Schande und unentschuldbare Unterlassung gegenüber den Hunderttausenden der in diesen Institutionen Geschundenen und meistens zwangsweise, schuldlos Inhaftierten.

Inhaltsübersicht:
Seit das Heim 1840 in Wabern bei Bern seine Tore öffnete, «Bächtelen» zu einem Begriff in der Schweizer Fremdplatzierungslandschaft geworden. Die Schrift zum Jubiläum zeichnet die Geschichte der Institution von den Anfängen bis heute. Hunderte von Kindern und Jugendlichen verbrachten während dieser Zeit zum Teil lange Jahre ihrer Kindheit oder Jugend dort. Die Autoren folgen den Spuren, die sie in den Akten der Institution hinterlassen haben. Sichtbar werden dabei die Konturen der Biografien dieser Kinder und Jugendlichen vor, während und nach ihrer Zeit in der Bächtelen. Auch die erzieherische Praxis der Institution und die dortigen Lebensverhältnisse, die besonders noch im 19. Jahrhundert von Mangel in jeder Hinsicht und harter Arbeit bestimmt waren. Gegründet wurde die Bächtelen von der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft als Rettungsanstalt für arme, sogenannt sittlich verwahrloste Kinder. Diese sollten mit einer strengen religiösen Erziehung pietistischer bzw. erweckter Prägung zu guten Christen erzogen werden.

Das angeblich christliche Leitbild schloss Prügelstrafen, sexuelle Übergriffe, Diskriminierung explizit keineswegs aus. Da es sich um eine gegen aussen abgeschlossene Welt handelte, drangen Mängel und Kritik nicht an die Öffentlichkeit. Die jeweiligen Leiter hatten alle Vollmachten. Zudem fehlte eine wirksame Kontrolle. Johannes Kuratli, der alleinstehende Vorsteher von 1840-1871, verging sich über Jahre an Knaben. Der vernichtende Bericht des Armenlehrers und ehemaligen Zöglings Theodor Wiesendanger an die Lehrerkonferenz im Toggenburg 1871 führte zu einer Untersuchung und einer Klage beim bernischen Gericht. Der Skandal endete mit einem unrühmlichen Abgang Kuratlis. Er entzog sich dem Verfahren und der Verurteilung durch seine Auswanderung nach New York. Er verstarb 1888 in Amerika.

Fast hundert Jahre später, Mitte der 1930er-Jahre, erfand sich die Institution neu und kümmerte sich fortan vorwiegend um schulentlassene männliche Jugendliche, die als Lernschwache und «Geistesschwache» galten. Die Religion, die das Anstaltsleben einst so geprägt hatte, verlor an Bedeutung. Die Arbeit hingegen blieb weiterhin ein das Heimleben beherrschendes Merkmal. Die Einführung der Invalidenversicherung Anfang der 1960er-Jahre war ein richtungsweisendes Moment für die Bächtelen; sie konzentrierte sich von nun an auf die neue IV-Klientel, auf zunächst als «geistig unter der Norm veranlagt» und später als «lernbehindert» bezeichnete Jugendliche. Einen Markstein in der Entwicklung der Bächtelen und ihrer Pädagogik stellten der Mitte der 1990er-Jahre erfolgte Übergang zum Wohngruppensystem und die Aufwertung des Sozialen dar. Heute ist die Stiftung Bächtelen eine moderne Institution. Ihr Angebot richtet sich an junge Frauen und Männer mit besonderem Förderbedarf, die zu einem selbstständigen, aktiven Leben in der Gesellschaft angeleitet und in den ersten Arbeitsmarkt integriert werden sollen.



Bibliographische Angaben
Brodbeck, Thomas; Moser Katharina (mit einem Beitr. v. Andrea Schüpbach):
Bewegte Geschichte. 175 Jahre Stiftung Bächtelen in Wabern bei Bern (1840–2015), Bern 2015. 189 S., Ill., geb., CHF 49.-
ISBN 978-3-905656-01-5