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Lebenslange Beeinträchtigung: Der Fluch der Armut und Fremdplatzierung
Die Frage der grundlegenden Benachteiligung über Kindheit und Jugend der zwangsweise Fremdplatzierten hinaus war in der Öffentlichkeit und der Forschung bislang kaum ein Thema. Die vielen aktuellen oder schriftlich überlieferten Einzelschicksale sprechen jedoch eine deutliche Sprache. Nur einer Minderheit von Betroffenen gelang es, die Fesseln der Vergangenheit abzustreifen, sich aus den Nachteilen der Herkunft aus einer niederen Gesellschaftsklasse und den von der Gesellschaft auferlegten Zwängen zu befreien. In der geforderten wissenschaftlichen Aufarbeitung der Sozialgeschichte der Schweiz ist diese Thematik als wichtiges Forschungsfeld aufgeführt.
Nachfolgend einige Themen aufgelistet, welche die vielfältige Benachteiligung stichwortartig dokumentieren. Es sind wiederkehrende Erfahrungen aus rund 1000 Biografien und der über 30-jährigen Berufspraxis des Historikers und Erziehungswissenschaftlers Professor Pierre Avvanzino. Die Einzelschicksale sind Zeugnis einer noch vielen Bürgern unbewussten, teilweisen grausamen, lebenslangen Abhängigkeit. Besonders betroffen waren stets Menschen mit Behinderungen.
Forschungsinhalte
- Forcierte Emigration durch die Gemeinden vor allem in 19. Jahrhundert nach Übersee
- Soziale Isolation, Diffamierung, Stigmatisierung, Deklassierung, Hänseleien, Sticheleien, Mobbing, Verdächtigungen, Beschuldigungen, Kriminalisierung, Nötigung, Erpressung Vielfältige Willkür wie Administrativjustiz, Kindswegnahme, Zwangssterilisation oder Kastration
- Bildungsdefizit dadurch Lese- und Schreibschwäche, Kulturdefizit, Keine Rechtskenntnis
- Meistens lebenslange schlechte Erfahrung mit Behörden, Opfer durch individuelle, institutionelle und strukturelle Gewalt
- Stark eingeschränkte Berufschancen und Stellenangebote, oft lebenslang geringer Verdienst und Ungenügende Altersvorsorge, keine oder minime Altersrenten, Verbleib in der Armutsfalle
- Bis in die 1960er Jahre grosses Risiko als Verding- oder Heimkind Magd oder Knecht zu bleiben
- Schwere seelische und oder körperliche Schäden durch wiederholte Traumata
- Beschädigtes Selbstwertgefühl, Scham, Schuldgefühle, Stummheit
- Um Geld oder Lohn betrogen, Veruntreuung durch Pflegeeltern, Gemeinden, Kantone oder Vormünder
- Depressionen, Alpträume und Flashbacks, erhöhte Suizidgefährdung
- Gesundheitsrisiko wegen schlechter Ernährung, erlittenem Hunger und Hungerfolter
Keiner ist so taub wie die, die nicht hören wollen.
Matthew Henry (1662-1714)
Ein seltenes Zeugnis einer solch lebenslangen Beeinträchtigung beweist die Lebensgeschichte der Gertrud Mosimann:
Dorothee Degen-Zimmermann
Mich hat niemand gefragt
Die Lebensgeschichte der Gertrud Mosimann
Gertrud Mosimann (1916-2001) hat von Anfang an schlechte Karten: Als uneheliches Kind kommt sie in Zürich zur Welt und wächst bei verschiedenen Pflegefamilien und in einem Heim auf. Und von Geburt an sieht sie fast nichts. Lange bleibt das Defizit unentdeckt. In der Schule wird die Sehschwäche nicht und mangelhaft berücksichtigt. Einzelne Erzieher stufen sie als schwachsinnig ein. Nach der Schule wird sie als Blinde ausgenützt und hat kaum Chancen ihre Lebenssituation zu verbessern. In Pflegeplätzen, Blindenheimen und Behindertenwerkstätten verdient sie trotz der elenden Schufterei nur einen Hungerlohn. Die Unterkünfte sind äusserst bescheiden, das Essen immer knapp. Die Sehschwäche macht mehrere Operationen notwendig. Dazu kommen wiederholt Krankheiten und kleine Unfälle. Mit der Zeit aber lernt Trudi sich zu wehren. Auch gegenüber den Behörden. Bis sie aber erst im AHV-Alter durch Fürsprache einer anderen Frau endlich auch Ergänzungsleistungen bekommt, ringt sie sich mit einem kläglichen Monatsbudget durchs Leben.
Der Blinde, Künstler: Paolo, in Privatbesitz
Die geistige Blindheit einer Gesellschaft oder Nation wird durch Tabus und Themen offenbar, über welchen der Schleier des Verbotenen liegt oder das Kollektiv wegschaut.