News

Diffamierung und Verhöhnung ehemaliger Verdingkinder auch 2017

Melania G. Mazzucco

So wie es auch im 21. Jahrhundert unverbesserliche Holocaustleugner hat, oder der eindeutig bewiesene Genozid an über 100'000 Armenier durch die Türkei vor hundert Jahren weiter abgestritten wird, gibt es Personen oder Organisationen, welche das schlimme Schicksal ehemaliger Verdingkinder verschweigen und verharmlosen wollen.

Beispiel: Am 7. Mai wurde im Regionalmuseum Schwarzenburg eine Ausstellung über Verdingkinder eröffnet. Im Flyer steht der unverzeihliche Satz: „Während viele fremdplatzierte Kinder tatsächlich eine Verbesserung ihrer Situation erleben durften, wurden andere Opfer von Misshandlungen und Ausbeutung“.

Kommentar: Obwohl weder eine Statistik über die Anzahl der betroffenen Kinder existiert, noch zuverlässige amtliche Quellen zu den damaligen Bedingungen, Zuständen vorliegen, geht der Verein netzwerk-verdingt aufgrund der bekannten über 1000 Biografien und Kontakte davon aus, dass im besten Fall 2% der ehemaligen Verdingkinder akzeptable (gut ist eine andere Kategorie), Verhältnisse in den Pflegefamilien während ihrer Kindheit vorfanden. Wer das Gegenteil behauptet, plädiert für eine revisionistische und reaktionäre Geschichtsschreibung. Nicht hinschauen, sondern weiter wegschauen, wie gehabt. Die über mehrere Jahrhunderte dauernde Ausbeutung, Kinderarbeit, Versklavung, Erniedrigung wird so ins Gegenteil verkehrt. Ebenso die lange katastrophale, soziale Misswirtschaft negiert, die vielfache Benachteiligung einschloss.

Was geschah damals wirklich? Den Eltern oder Elternteilen wurden die Kinder meist willkürlich weggenommen, die Familie auseinandergerissen, die Geschwister bewusst getrennt und ohne Kontrolle irgendwo verschachert. Einziges Kriterium war die schnelle und kostengünstigste Platzierung hauptsächlich in der Landwirtschaft. Qualität des Ortes und der Pflegepersonen spielten keine Rolle. Aus den Augen aus dem Sinn. Die so verschacherten Verdingkinder erlebten ungeschützt über Jahre Diffamierung, Stigmatisierung, Mobbing, Gewalt, sexuelle Übergriffe und Verhöhnung. Auch ausserhalb der Pflegefamilie in der engen, dörflichen Gesellschaft, durch Nachbarn, Lehrer und Pfarrer. In diesem unbeschreiblichen Elend gab es eine erhöhte Suizidgefahr. Dies wurde ebenso ausgeblendet und nie ernsthaft erforscht. Betroffene schildern, dass sie nie eine Umarmung, tröstende Worte, Ermutigung oder Hilfe erfuhren. Dazu kam die wiederholte Schmähung der Eltern, als Nichtsnutze, Vaganten, Diebe, Alkoholiker, Zuchthäusler, für die Mütter war Hure das beliebteste Schimpfwort.

Fazit: Absolut katastrophal daran ist, dass nach drei aufwendigen Forschungsprojekten des Nationalfonds seit 2006 mit den entsprechenden Publikationen, zwei wichtigen Ausstellungen zur Thematik Verdingung 2009 und 2017, unzähligen Beiträgen in den Massenmedien in den letzten 13 Jahren und dem Kinofilm „Der Verdingbub“ solch verheerende Aussagen immer noch ungestraft möglich sind. Die unten zitierten drei Publikationen über die umfangreichen Forschungen seit 2006 zeigen die Nöte und den Leidensweg in Dutzenden von kürzeren und längeren Biografien auf. Dazu die vereinseigene Broschüre „Die Elendsverstärker“, welche konzentriert die wichtigsten Elemente der zwangsweisen Fremdplatzierung auflistet und die damals herrschende Willkür deutlich macht. Der Verein netzwerk-verdingt nimmt den Vorfall als Anlass die Konsequenzen einer solchen Äusserung aufzuzeigen. Wer gravierende Fehlleistungen in der Geschichte bagatellisiert beweist selber eine Anomalie im Gehirn. Die natürliche menschliche Reaktion auf Not, Mangel, Druck, Zwang, Gewalt und Elend wäre Mitgefühl. Wer dies abblockt zeigt, dass seine Empfindungen und Emotionen beschädigt, unterdrückt oder fehlgeleitet sind. Wie verheerend diese Situation für die Betroffenen aufgrund der herrschenden Machtverhältnisse und in einem Klima des Zeitungeistes in den 1940er Jahren war, beweisen vielen Zeitzeugen, welche sich nach Jahrzehnten des Schweigens zu äussern wagten. Nicht zu vergessen, dass bis vor wenigen Jahren Betroffene, welche ihre schlimme Kindheit erzählten, oft als Lügner beschimpft wurden.

Walter Zwahlen

Fotos: Peter Klaunzer, Keystone

Sonderausstellung «Verdingt im Schwarzenburgerland»
Eine Ausstellung im Regionalmuseum Schwarzwasser zur Geschichte von Fremdplatzierung und Armut in der Region.
Vom 7. Mai bis 19. November 2017

Verdingkinder, Portraits von Peter Klaunzer
Die Fotoausstellung von Keystone, des Vereins netzwerk-verdingt und des Polit-Forums Käfigturm, Bern, läuft noch bis 30. Juni 2017.