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Porträt: Erna Eugster

Fremdplatzierung

Die Thematik zwangsweise Fremdplatzierung in all ihren unterschiedlichen Formen und den von oft angeblichen Fachleuten und Laien in der Administration getroffenen Massnahmen ist extrem komplex. Sie zeigt die Schweizer Sozialpolitik als riesiges Fiasko und greift weit in die Geschichte zurück. Jede einzelne Biografie ist wichtig, weil sie ein Stück weit dieses Minenfeld erhellt. Für manche Betroffene hat das erlittene Leid stets wieder den Geschmack einer Zeitbombe. Erna Eugster hat als Zeitzeugin durch das Schreiben versucht, diese bitteren Erfahrungen aufzuarbeiten.

Wenn man eine Lüge wider besseres Wissen nicht benennt, wird man Teil dieser Lüge.


netzwerk-verdingt: Über Jahrzehnte verwies man Dich bereits als Kind von der Behörde auf einen destruktiven Weg.
Erna: Bei mir ist es bereits zuhause losgegangen. Meine Mutter hat mir immer jede mögliche Schlechtigkeit unterstellt und so natürlich wieder Grund gehabt, mich zu demütigen und windelweich zu prügeln. «Em Tüüfel ab em Karre gheit sig i». Meinte damit, ich sei nicht einmal gut genug für den Teufel. Schimpfwörter gab es täglich für mich: Sou-Toggu…Sou…Siech...Lumpe-Moore, Dräck-Lueder...Dräckhuer...und Dräckloch. Soweit ich mich erinnern kann - nichts und nie etwas Löbliches. Ich bekam deshalb immer mehr Probleme in der Schule. Wegen der Schläge zuhause kam ich immer wieder mit verschlagenem Gesicht in die Klasse. In der Folge kamen Schule und Gemeinde zum Schluss, mich fremd zu platzieren. Notfallmässig kam ich kurz beim Dorfpfarrer unter, bis mich dann die Fürsorgerin an einem Samstag nach dem Essen dort wieder abholte. Sie eröffnete mir, ich käme jetzt nach Bern in ein Heim. Dort hätte ich es viel besser!? Aber ich wollte nicht in ein Heim, ich wollte zuhause bleiben, wollte dass meine Mutter gut zu mir wird. So kam es, dass ich in diesem Heim davonlief und so landete ich das erste Mal im Amtshaus Bern, wo ich zur Zwischenlagerung blieb, bis die Behörden wieder eine Idee hatten, die für mich taugen sollte (ich war damals noch schulpflichtig). Man verfrachtete mich nach Münsingen in die psychiatrische Klinik. Auch dort lief ich irgendwann wieder weg, kam in das nächste Heim und zwischendurch immer wieder ins Gefängnis. Auffallend war, dass plötzlich gemäss den Akten, kein Haar mehr gut war an mir. Die Einträge lauteten: leicht debil, schwachsinnig, asozial. Alles Lügen, die mir das spätere Leben versauten.

n-v: Wie hast Du es geschafft, Dich von diesem Stigma zu befreien?
Erna: Ich weiss nicht, ob ich es geschafft habe? Jetzt habe ich ein gutes Umfeld, liebe Leute um mich, einen tollen Mann, meinen Sohn und zwei Enkel, die mir viel bedeuten. Aber was ist, wenn das in sich zusammenfällt? Oder wenn mich eine unbändige Wut packt, und das Schreckliche alles wieder präsent wird? Oder falls die Gesundheit nachlässt, Krankheit überhandnimmt, die auf das Geschehene zurück zu führen ist. Geschafft? Ich weiss es nicht!

n-v. Welches waren die schwierigsten Momente in Deinem Leben?

Erna: Die schwierigsten Momente? Es gab viele. Zum Beispiel, wenn ich wieder in einer Zelle sass, aber nichts verbrochen hatte, ausser dass ich wieder abgehauen bin. Wenn ich nichts zu essen hatte und nicht wusste, wie es weitergeht. Viele Momente, wo ich kein Vertrauen zu den Mitmenschen hatte, weil keine «Sau» an mich glaubte. Diese schlimmen Phasen von Ohnmacht, des Allein-Gelassen-Seins. Ohne Hoffnung, dass doch etwas aus mir werden könnte. Oder als ich meinen Sohn Thomas zur Adoption frei geben musste und niemand mir half. Weil sie mir drohten, er werde wie ich ins Heim kommen. Nein, ins Heim musste er nicht, dafür habe ich aber einen hohen Preis bezahlt.

n-v: Wann hast Du Dich entschieden, Dein Leben niederzuschreiben?
Erna: 2009 war die erste Verding-Kinder-Ausstellung im Käfigturm die ich damals besuchte. Ich habe viele Sachen angeschaut und angehört, aber nach einer Weile musste ich an die frische Luft. Ich konnte fast nicht mehr laufen und hatte drei Tage lang fürchterliche Schmerzen. Da wurde mir bewusst, dass ich mich meiner Geschichte stellen muss.

n-v: Was hat sich seit der Veröffentlichung Deiner Biographie verändert?
Erna: Die Veröffentlichung hat mir zwei Dinge bewirkt. Erstens denke ich nicht mehr, wenn ich mit Leuten zu tun bekomme, was sie von mir halten, wenn sie meine Geschichte kennen würden. Zweitens schäme ich mich nicht mehr für meine Biografie. Schämen sollten sich die Leute, die uns das angetan haben. Amen


Dreckloch - Lebensgeschichte einer administrativ Versorgten,
Erna Eugster, Verlag Xanthippe, ISBN: 978-3-905795-36-3
Schon früh wurde Erna Eugster fremdplatziert, kam in Heime, in eine psychiatrische Klinik und immer wieder ins Bezirksgefängnis. Sie machte Erfahrungen mit Behörden, mit Gewalt, Unverständnis, Stigmatisierung, Ausgrenzung. Erna war aber nie der Prozess gemacht worden, weil sie nie kriminell aber unangepasst war, störte. Die Aufenthalte in der Beobachtungsstation, im Heim, im Gefängnis, in der psychiatrischen Klinik erfolgten durch die Sozialbehörden ohne rechtskräftige Verurteilung. Sie war eine jener zahlreichen Inhaftierten, die heute unter dem Begriff «administrativ Versorgte» zusammengefasst werden. Eine von denen, die gemäss behördlichem Befinden «nicht recht taten», gefährdet und «liederlich» waren und deshalb weggesperrt wurden. Und dies bis mindestens 1981. Im Rechtsstaat Schweiz.

Kurzbiografie:
Erna Eugster, geboren 1952 in Solothurn, verbrachte ihre ersten Lebensjahre in einem Kinderheim in Deitingen bei Nonnen. Danach wohnte sie mit ihren Eltern in Bettenhausen und später in Herzogenbuchsee, wo sie wegen Problemen mit der Mutter fremdplatziert wurde und wieder in ein Heim kam. Ihre weiteren Stationen: Psychiatrische Klinik Münsingen, Arbeitserziehungsanstalt Kalchrain, Bezirksgefängnis Bern. Eine ordentliche Berufslehre konnte sie, die überall immer wieder ausbrach, nicht machen, arbeitete aber viele Jahre im Gastgewerbe. Heute lebt sie mit ihrem Ehemann und ihrem Hund in Bern.

Links:

SRF, Aeschbacher, Sendung mit Erna Eugster vom 18.2.2016
Annabelle: Als Unschuldige im Gefängnis

Ausstellungshinweis: Am Samstag, dem 13. Januar 2018 wird im Kornhausforum in Bern um 1700 Uhr die Ausstellung mit dem Titel «Ir Chischte» offiziell eröffnet. Darin ist die Zelle aus dem früheren Amthaus nachgebaut, wo Erna 1968 als 16-Jährige einsass.

Text: Walter Zwahlen