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Forschungsberichte zur Fremdplatzierung

Fremdplatzierung

Seit fast 10 Jahren fokussieren sich die Schweizer Medien wiederholt auf die zwangsweise Fremdplatzierung in Pflegefamilien, Kinder-, Arbeitsheimen oder der administrativ Versorgten in Strafanstalten. Die historische Forschung bekam dadurch Aufschwung, und es entstanden diverse Werke über die diversen Institutionen, in welchen die als deviant betrachteten Individuen untergebracht waren. Hier eine Auswahl der Publikationen aus jüngster Zeit.

Fürsorgerische Zwangsmassnahmen Anstaltsversorgungen, Fremdplatzierungen und Entmündigungen in Graubünden im 19. und 20. Jahrhundert, Tanja Rietmann, Kommissionsverlag Desertina, 2017
Die Studie untersucht die Geschichte fürsorgerischer Zwangsmassnahmen in Graubünden. Beginnend bei der Zwangsarbeitsanstalt Fürstenau, die 1840 als eine der ersten Arbeitsanstalten in der Schweiz eröffnet wurde. Noch im 20. Jahrhundert betrachteten die Behörden «liederliche», «arbeitsscheue» oder «trunksüchtige» Personen als Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse, die es zu disziplinieren galt. Strukturelle Ursachen von Armut und Randständigkeit fanden als mildernde Umstände kaum Beachtung. Die Politik und gesellschaftliche Reformkräfte erweiterten zu Beginn des 20. Jahrhunderts die rechtlichen Voraussetzungen, unter denen Betroffene anstaltsversorgt, fremdplatziert oder entmündigt werden konnten. Für die Betroffenen hatte dies eine erhebliche Rechtsunsicherheit zur Folge und konnte in eine eigentliche Rechtlosigkeit münden. Wie andere Kantone der Schweiz begann Graubünden Kinderheime und Pflegeplätze erst viel zu spät zu beaufsichtigen. Erst ab Mitte der 1950er-Jahre, als zunehmend Missbrauchsfälle ans Licht kamen, führte dies zur Schliessung einer Reihe von Kinderheimen. Die Dunkelziffer blieb allerdings hoch. Die wichtige, kritische Reflexion zu dieser Praxis setzte erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein. Das neue Kindes- und Erwachsenenschutzrecht, das seit 2013 in Kraft ist, berücksichtigt endlich lange gestellte Forderungen nach professionellem Personal und einen verstärkten Rechtsschutz der Betroffenen.

 


„Niemandskinder“

Erziehung in den Heimen der Stiftung Gott hilft 1916-2016, Christine Luchsinger, Desertina Verlag, 2016
Heimkinder galten im frühen 20. Jahrhundert als «verstockt». Später wurden sie als «verhaltensgestört» beschrieben. Heute bezeichnet sie die Forschung oft als traumatisiert. Haben sich die Kinder so gewandelt, oder änderte sich der gesellschaftliche Blick auf sie? Anhand der Kinderheime der Bündner Stiftung Gott hilft geht die Autorin diesen Fragen nach. In den Heimen sollten die Kinder wie in einer Familie› aufwachsen – so wollte es die Stiftung, aber auch die Gesellschaft. Die «Heimmütter» und «Heimväter» übersahen dabei die Loyalitätskonflikte, in die sie die Kinder stürzten, die ja meist Eltern hatten. Neben gutem Willen und Liebe gab es aber auch Gewalt, Stigmatisation und Willkür. Mangelndes Wissen und Überforderung der Erziehenden prägten den harten Arbeitsalltag der Kinder. Erst ab 1965 verschaffte eine Ausbildung den Mitarbeitenden methodisches Wissen, und die Kinder wurden endlich von der Feldarbeit entlastet. Schulisches Lernen, Sport oder Spiel bekamen einen Stellenwert. Nicht zuletzt hat die Heimkampagne der 1970er Jahre die vielen Institutionen aufgerüttelt und zum Handeln gezwungen. Ein grosser Wandel in den Erziehungsvorstellungen vollzog sich seit den 1990er-Jahren mit der Wahrnehmung der Kinder als ebenbürtig mit den Erwachsenen. Die Fremderziehung wurde neu entworfen; die Familiensimulation verschwand. Die Stiftung Gott hilft hielt über den gesamten Zeitraum an ihren christlichen Werten fest, erwies sich aber im Hinblick auf die Erziehungsvorstellungen als lange rückständig, wurde aber lernfähig und flexibel.Mit den eindrücklichen Quellen der Stiftung lassen sich die Bedingungen für Kinder im Heim teilweise nachzeichnen. Leider sind jedoch viele Zöglingsdossiers vernichtet worden.

 


Versorgt im Thurhof
Alltagsleben und Führungsstil in einer Ostschweizer Anstalt für Knaben, 1920–1940, Max Baumann, Historischer Verein/Staatsarchiv St. Gallen, Band 41, 2017
Das Erziehungsheim im «Thurhof» entstand 1870 als katholische «Rettungsanstalt für verwahrloste Knaben». Sie wurde nicht von Priestern und Nonnen geführt, sondern von «Heimeltern», meist wenig ausgebildeten Laien. Im Mittelpunkt der Schilderung stehen ein Heimleiter und seine Frau, welche die Anstalt lange Zeit mit autoritären Methoden führten. Die subjektiven Aufzeichnungen eines langjährigen, kritischen Lehrers werden durch andere Quellen ergänzt und erweitert, vor allem durch Protokolle und Korrespondenzen der Aufsichtsbehörden. Geschildert wird der Alltag im Heim, der von körperlicher Arbeit der Zöglinge im zugehörigen Landwirtschaftsbetrieb mitgeprägt war. Der schulische Unterricht dagegen stand im Hintergrund. Das Alltagsleben war stark religiös bestimmt. Ordnung und Zucht wurden mit Härte (Körperstrafen, «Bettnässer-Pädagogik») durchgesetzt. Erst eine neue Aufsichtsbehörde durchschaute die Missstände und ergriff Massnahmen zur Verbesserung des Anstaltswesens. Der Autor der Studie hatte Einblick in die Akten des ehemaligen Lehrers, der eine andere Pädagogik vertrat und Anteil am Schicksal der Zöglinge nahm.

 


Kühlewil 1892-2017
Die Geschichte einer sozialen Institution der Stadt Bern, Anna Bähler, Verlag Hier und Jetzt, 2017
Im Sommer 1892 eröffnete die Stadt Bern die städtische Armenanstalt auf dem Landgut Kühlewil, knapp zehn Kilometer von Bern entfernt auf dem Längenberg. Anlässlich des 125-Jahr-Jubiläums zeichnet die Autorin die Geschichte dieser traditionsreichen Institution nach – von der städtischen Armenanstalt über die Fürsorgeanstalt bis zum heutigen Alters- und Pflegeheim Kühlewil. Die Entwicklung des Heims ist eng verbunden mit der Geschichte der Armut und der sozialen Fürsorge in der Stadt Bern. Der Blick zurück belegt den enormen gesellschaftlichen und sozialpolitischen Wandel der letzten Jahrzehnte und zeigt, welche Herausforderungen die Institution zu bewältigen hatte. Als Verpflichtung weist er in die Zukunft: Auch die heutige Zeit stellt spezifische Anforderungen an den Umgang mit und die Unterstützung von älteren und pflegebedürftigen Menschen. Schade ist, dass im Buch Vieles angesprochen ist, auf das später nicht eingegangen wird. Wichtige Quellen von Ehemaligen fehlen, welche bekannt sind. Zudem ist die Autorin mit dem historischen Verein des Kantons Bern verbandelt. Die kritische Durchsicht von einer unabhängigen Fachperson fehlt deshalb. Begrüssenswert ist das Buch als Untersuchung einer „sozialen“ Institution durchaus, aber in diesem Fall handelt es sich um eine lückenhafte Gefälligkeitsarbeit. Leider folgten die vielen Jubiläumsschriften der diversen anderen Anstalten solch kaum kritischen Texten bis in die jüngste Gegenwart.

 

Ergänzungen zu den Buchtexten: Walter Zwahlen