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Entführt, entrechtet, entwurzelt und entfremdet
Ein unverantwortliches Experiment der dänischen Regierung mit Grönlandkindern

Journalist Kai Strittmatter, Kopenhagen

Das erschreckende dieses Vorfalls liegt darin, dass es über 70 Jahre dauerte, bis das offizielle Dänemark überhaupt reagierte. Noch gravierender die Tatsache, dass die dänische Regierung bis heute auch nicht bereit war, die finanziellen Konsequenzen dieser Übergriffe anzusprechen und eine Wiedergutmachung überhaupt in Erwähnung zu ziehen. Das verursachte Leid, die gebrochenen Menschen, die dadurch verpfuschten Lebensläufe, wären vermeidbar gewesen, wenn man früher gehandelt hätte. Was in Europa in den letzten beiden Jahrzehnten in dieser Thematik in verschiedenen Ländern aufgedeckt worden ist, scheint in Dänemark überhaupt nicht angekommen zu sein. Dabei ist der politische Protest ein Appell an die abwesende Gerechtigkeit, begleitet von der Hoffnung, dass in der Zukunft ein gerechter Zustand eintritt.

Kolonialgeschichte:
22 grönländische Kinder wurden 1951 nach Dänemark verschleppt. Sie waren Teil eines Menschenexperiments – mit dramatischen Folgen
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Es war der Sommer des Jahres 1951, als das Schiff MS Disko die Küste Grönlands entlangsegelte und die Kinder holte. Ein fünfjähriges Mädchen wurde ohne Vorwarnung von zu Hause abgeholt. Es dachte, es bekomme eine Bootsfahrt spendiert. Einer Achtjährigen und ihrer Familie erzählte man von einer Ausflugsfahrt nach Dänemark. Schliesslich waren 22 Kinder an Bord. Eine der Überlebenden berichtete, sie hätten es sogar «ein wenig spannend» gefunden. Die meisten hatten noch nie ihren Heimatort verlassen, geschweige denn Grönland, das damals noch eine dänische Kolonie war. Niemand sagte ihnen, dass sie ihre Familien nicht wiedersehen würden. Dass man ihnen ihre Sprache und ihre Kultur nehmen würde oder erwähnte, dass sie Teil eines Experiments waren. Eines der Kolonialbehörden, die sich die Kinder griffen für einen Versuch, aus ihnen vermeintlich bessere Menschen zu machen: also richtige Dänen. Die 22 Mädchen und Knaben sollten erzogen werden zu einer neuen grönländischen Elite. Und dazu wollte der dänische Staat ihnen zuerst alles Grönländische austreiben.

Man brachte sie in Dänemark zuerst in eine Ferienkolonie, dann wurden sie auf Pflegefamilien verteilt. Dort durften sie nur noch Dänisch sprechen. 1953 wurden sie nach Grönland zurückgeschickt, landeten in einem Kinderheim in der Hauptstadt Nuuk. Jeder Kontakt zur Familie, aber auch das Spielen mit einheimischen Kindern im Ort wurde missbilligt. Sie hätten ja zurückfallen können ins Grönländische. Doch das Experiment scheiterte. Das Dänische, ja, das lernten sie alle, und das Grönländische vergassen sie. Aber eine Elite wurde aus den Versuchskindern nie. Stattdessen hatte der Staat gebrochene Menschen aus ihnen gemacht. Viele ergaben sich dem Alkohol, einige brachten sich um.

Geld kann das Geschehene nicht ungeschehen machen.
Nur 6 der ursprünglich 22 leben noch, sie sind heute zwischen 75 und 78 Jahre alt. 2020 erst wurde ihr Leid erstmals von der Regierung anerkannt, in einer in deren Auftrag veröffentlichten Studie. Danach entschuldigte sich Ministerpräsidentin Mette Frederiksen im Parlament bei den Betroffenen für das «Versagen» des dänischen Staates. Nun gaben die Überlebenden bekannt, dass sie von diesem Staat eine Entschädigung fordern: 250’000 dänische Kronen pro Person, umgerechnet rund 35’000 Schweizer Franken. Das Geld könne das Geschehene nicht wieder gutmachen, sagte Kristine Heinesen, eine der Überlebenden, der Zeitung «Politiken». «Aber es würde zeigen, dass sie ihren Fehler eingestehen.»

Die Überlebenden wollen vor Gericht ziehen.
Die Regierung lehnt jede Entschädigung bislang ab. Für manche grönländischen Politiker und Aktivisten geht es bei der Geschichte jenseits der individuellen Schicksale auch um die Aufarbeitung der dänischen Kolonialherrschaft und der kulturellen Entfremdung, die diese mit sich brachte: einer Herrschaft, die den Grönländern über Jahrhunderte hinweg vermittelte, sie seien minderwertige Menschen. Die Überlebenden sind auch bereit, vor Gericht zu ziehen. «Allein die Tatsache, dass sie es ein ‹Experiment› nannten, hat mich total umgehauen», sagt Kristine Heinesen. «Wir waren Kinder, Menschen,und wurden ‹Experiment› genannt.»

Kai Strittmatter, Kopenhagen, in der Berner Zeitung vom 26.11.2021

Fazit:
Das Beispiel zeigt, wie wenig Menschenrechte sechs Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs trotz des eben beendeten Naziterrors galten. Dabei gilt Kidnapping bis heute als eines der schlimmsten Verbrechen in der Strafjustiz.

Links:
Artikel in der Zeitschrift "mare".
Video auf "arte".

Die entführten Kinder sahen ihre Familien nie mehr. Nach dem Kinderheim in Dänemark kam Grönlandkind Helene Thiesen (links) zu ihrer ersten Pflegefamilie. Von nun an sollte sie nur noch Dänisch sprechen.