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Ulrich Gschwind

Aufarbeitung

Heimlandschaft Zürich: Anfangs der 1990er Jahre lebten um die 600 fremdplatzierte Kinder und Jugendliche aus der Stadt Zürich in 24 Heimen, teilweise in der Stadt und im Kanton selber, darüber hinaus an Standorten in der ganzen Schweiz, so etwa in Celerina, Flims, Gais oder Minusio. Gut 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kümmerten sich um ihr Wohl, sei es in der direkten Betreuung oder in der Verwaltung. Zusammen mit den restlichen Aufwänden ergab dies Gesamtkosten von gut 30 Millionen, die gemeinsam von Stadt, Kanton und Bund getragen wurden. Nicht zuletzt diese Kosten veranlassten Dr. Ulrich Gschwind, den Vorsteher des Amtes für Kinder- und Jugendeinrichtungen der Stadt Zürich, das Heimwesen genauer unter die Lupe zunehmen. In Zusammenarbeit mit dem Fotografen Giorgio von Arb entstanden zunächst 24 Broschüren, die sowohl Eltern und Fürsorger als auch Behörden und Politik über die einzelnen Institutionen informierten. Später entstand unter Beizug des Schriftsteller Alois Bischof ein Bild-Textband mit mehr als 200 Seiten Umfang und über 120 Abbildungen, der weit mehr war als der angestrebte Leistungsausweis. Rückblickend ist der Band die erste grosse Publikation über fremdplatzierte Kinder und Jugendliche seit der «Heimkampagne» der 1970er Jahre und gleichzeitig ein Meilenstein, was den Umgang mit dem Thema betrifft.

netzwerk-verdingt: Als Sie damals Vorsteher des Amtes für Kinder- und Jugendeinrichtungen der Stadt Zürich wurden und das Ihnen anvertraute Heimwesen genauer unter die Lupe nahmen, was fanden Sie da vor?
Ulrich Gschwind: Es gab vier verschiedene Dienstabteilungen mit Heimen im Sozialdepartement. Im Jugendamt 1 waren eher ehemalige Kindererholungsheime, welche nach dem 1. Weltkrieg unter- oder fehlernährte Kinder aus schlechten Wohn- und Lebensverhältnissen aufnahmen. Im Jugendamt 2 versuchten progressive Sozialpädagogen, moderne Pioniereinrichtungen der freiwilligen Sozialhilfe zu schaffen, wie Wohngruppen für junge Mädchen von 16-20 Jahren. Das Jugendamt 3, die Berufsberatung fühlte sich für Heime mit Berufsausbildung zuständig. Sein Gfellergut in Dübendorf war bereits eine relativ moderne Ausbildungsstätte. Die vierte Anteilung, Amtsvormundschaft, führte aus historischen Gründen auch eine Erziehungsheim, die Pestalozzi Jugendstätte Burghof. Die beiden städtischen Waisenhäuser unterstanden direkt der Waisenhauskommission unter der Leitung der damaligen Stadträtin Emilie Lieberherr. Dieses komplexe Konstrukt sollte ich nun zusammenführen und modernisieren. Mein Hauptanliegen gemäss meiner Ausbildung war, die Sozial- und Schulpädagogik in all diesen Heimen auf Vordermann zu bringen. Einige Heimleiter empfanden das als Bedrohung, denn das hiess für sie Autonomieverlust, neue Entwicklungen, Umbauten etc. Wir wollten eine bessere Erziehung für die anvertrauten Zöglinge, besser ausgebildetes Personal, auf die Problemlagen der Kinder ausgerichtete Schulen und eine psychologische Begleitung. Ich stellte einen Ökonomen der Fachstelle für Heimerziehung an. Das Angebot wurde analysiert, Perspektiven formuliert, ein dreiteiliges Leitbild für die städtischen Kinder- und Jugendheime erarbeitet, dessen Zentrum ein Massnahmenkatalog mit 100 Empfehlungen war, zu welchem der Stadt- und Gemeinderat Stellung nehmen mussten. Zwei Drittel davon wurden den auch in der Folge umgesetzt. In den Heimen selber wurde via Rekrutierungspolitik von Sozialpädagogen und Schulung eine aktuellere Pädagogik implementiert. Ich selber unternahm in meiner Anfangsphase im Amt zahlreiche Auslandreisen, um die Heimsituation dort kennenzulernen. Diese Einblicke und Kontakte dienten der Standortbestimmung und meiner persönlichen Ausbildung. Nach einiger Zeit kannte ich die pädagogisch führenden Heime in den Niederlanden, in Deutschland, Frankreich, Luxemburg und Österreich.

n-v: Mit Giorgio von Arb verpflichteten Sie einen Fotografen, der auf engagierte, eigenständige Art mit über 120 Fotos ein zeitgemässes Bild der Heime und Zöglinge schuf. Was bewirkten diese Portraits?
U. G.: Zuerst gestalteten Giorgio von Arb und ich für jede Einrichtung einen Prospekt zu Handen der einweisenden Stellen, Eltern und Betroffenen. Die Heime sollten gegen aussen attraktiver und tragfähiger werden und wurden auch so dargestellt. Wir mussten ja auch die vorhanden Plätze füllen. Deshalb brauchte es eine zeitgemässe Publikationsform: Schnappschüsse aus dem Heimalltag in Wort und Bild. Diese Broschüren wurden ein Erfolg.

24 Broschüren Broschüren

n-v: Nach den 24 Broschüren, zu jedem Heim eine, erhielten Sie den Auftrag, zuhanden der Politik, also vor allem des Gemeinderats, ein Buch über die Heime zu schaffen, eine Art Leistungsschau.
U. G.: Ja, es entstand das Buch „heim! Streifzüge durch die Heimlandschaft“. Ich erbat mir von Emilie Lieberherr für dieses Projekt freie Hand und gestand diese mit ganz wenigen Auflagen sowohl Giorgio von Arb für die Bilder wie auch Alois Bischof für den Text zu. Als ich das erste Exemplar des Buchs meiner Chefin überbringen liess, klingelte wenige Zeit später mein Telefon. Am andern Ende war ihr Sekretär, der mir ein Gewitter ankündigte. Emilie Lieberherr war entsetzt, verbot die Verteilung in der Verwaltung und in den politischen Entscheidungsorganen von Stadt und Kanton, die uns gelieferten Exemplare landeten auf dem Estrich, und sie wollte sogar den Verkauf in den Buchhandlungen stoppen.

n-v: Der umfangreicher Bild-Textband „heim“ war die erste grosse Publikation über fremdplatzierte Kinder seit der «Heimkampagne» der 1970er Jahre. Was hat er bewirkt?
U. G.: Das Buch wurde vor allem in den andern Kantonen und in Deutschland ein Renner, weil es das Heim und seine Arbeit weder verherrlichte noch seine Schwächen verschwieg, aber gerade deshalb die Stärken glaubhaft machen konnte. Aber ohne die im Lead erwähnte Heimkampagne, welche das Terrain vorbereitete, wäre meine Reformarbeit im Sozialdepartement der Stadt Zürich nie in diesem Rahmen möglich gewesen.

n-v: Einzelne dieser 24 Heime waren Stationen für das Hilfswerk der Kinder der Landstrasse gewesen. Fanden Sie da noch Relikte dieser Vergangenheit?
U. G.: Nein, diese Zeit war endgültig vorbei. Aber im Durchgangsheim Florhof gab es Schwierigkeiten mit Roma-Kindern. Wegen der fehlenden schulischen Ausbildung, dem für sie ungewohnten Milieu ausserhalb ihrer Sippe und dem oft zu frühen Austritt aus der Institution. In Minusio, Flims und in den Kinderheimen häuften sich plötzlich dunkelfarbige Kinder aus Santo Domingo. Die Recherchen des Jugendamtes ergaben, dass diese Kinder von Prostituierten oder Nachtklubtänzerinnen in die Schweiz gebracht wurden, weil diese Heime und Schulen in ihrem Ursprungsland einen ausgezeichneten Ruf genossen.

Interview: Walter Zwahlen

Buch Gschwind

Kurzbiografie:
Ulrich Gschwind studierte in Paris, Montpellier und Zürich Romanistik, Germanistik und Pädagogik für das höhere Lehramt. Er war dann zuerst als Jugendsekretär im Bezirk Pfäffikon, später im Nationalfonds tätig, wo er sich u.a. mit Problemen der sozialen Integration befasste. Nach seiner Tätigkeit im Sozialdepartement leitete er eine Privatschule und gab Kurse in Kommunikationspsychologie.