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Unter dem Nordlicht - Indianer erzählen von ihrem Land

Manuel Menrath

Erst 2016 anerkannte der kanadische Premier Justin Trudeau die Rechte der Indigenen in seinem Land. Der Schweizer Historiker Manuel Menrath dokumentiert in seinem Werk die Ungerechtigkeit und das Leid, welches an der Urbevölkerung seit der Staatswerdung Kanadas am 10. Februar 1841 bis heute angetan wurde. Er bezeichnet es als humanitäre Katastrophe, welche sich in einem der reichsten Länder ereignete und immer noch fortdauert. Diese grossartige Spurensuche in den entlegenen Cree- und Ojibwe-Reservaten Ontarios vermittelt die Geschichte der Eroberung, Kolonisierung, Ausbeutung, Täuschung, fortdauernder Unterdrückung und Vernachlässigung aus indianischer Sicht - fundiert, überraschend und berührend zugleich.

Hintergrund:
«Wir wurden nicht in Kanada geboren, sondern Kanada wurde auf unserem Land geboren.» Dies die indianische Sicht der Realität. Der westliche Blick auf Kanada ist von Klischees geprägt, romantisiert: Lagerfeuer, Jagd, Abenteuer, Adlerfedern, Wildpferde und ein Leben im Einklang mit der Natur. Doch wie leben sie wirklich? Der Schweizer Historiker Manuel Menrath machte sich auf in entlegene Gebiete im hohen Norden Kanadas, dorthin, wohin keine Strasse führt, und traf Cree und Ojibwe in ihren Reservaten. Sie vertrauten ihm, dem Europäer - dem Wemistigosh (Holzbootmensch), wie die weissen Immigranten genannt wurden - weil Menrath offen war und ihnen zuhörte. Sie nahmen ihn mit zu ihren rituellen Festen und zur Jagd, er lebte wirklich mit ihnen.

In den über hundert Interviews erfuhr er von ihrem Leben - ihrem Verhältnis zur Natur, ihren Vorfahren, ihrer Geschichte - und von dem Land, das sich heute «Kanada» nennt und dessen Entstehung für sie mit grossem Leid verbunden ist. Sie erzählten von durch die Zivilisation ausgerotteten Tieren, alten Ritualen für sie wichtigen, die ihnen von den weissen Kolonisatoren verboten wurden. Christlichen Missionaren, welche eine macht- und angstorientierte, religiöse Botschaft predigten. Von den Grausamkeiten in den Residential Schools, wo ihre Kinder in die Gesellschaft der Weissen mit Gewalt zwangsassimiliert wurden. Ihre Geschichten handeln von den oekonomischen, kulturellen, sozialen wie seelischen Verwüstungen des kulturellen Völkermords, von Depression, Drogen- und Alkoholmissbrauch. Allein im Cree-Dorf Attawapiskat gab es im Jahr 2016 100 Selbstmordversuche unter Jugendlichen - genau in dem Jahr, in dem Premier Justin Trudeau, viel zu spät, die Rechte der Indigenen anerkannte.

Manuel Menraths faszinierendes und tief beeindruckendes Werk berichtet vom Leben derer, die schon seit Jahrtausenden in Kanada lebten - und lässt sie selbst zu Wort kommen. «Dies ist ein wichtiges Buch, weil es unsere Stimmen enthält. Es ist gut, dass wir damit in Europa gehört werden. Denn unsere Geschichte wurde jahrhundertelang ignoriert.» Sagt Chief Stan Beardy, Grand Chief der Nishnawbe Aski Nation (2000-2012) und Chief von Ontario (2012-2015). Das Buch ist eine behutsame Reise in die Geschichte und die Lebensrealität der First Nations, der Indianer im Norden Kanadas. Manuel Menraths Text liest sich manchmal eher wie eine Reportage, ein Reise- und Begegnungsbericht. Er schuf damit eine umfassende Chronik der Indigenen von Ontario.

Text: Walter Zwahlen


Unter dem Nordlicht - Indianer aus Kanada erzählen von ihrem Land, Manuel Menrath, Galiani Verlag, 2020
Kurzbiografie:
Manuel Menrath, geboren in Luzern, arbeitet seit 2009 am Historischen Seminar der Universität Luzern.