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Der kluge Dieb

Kaiser

Eine Geschichte aus dem Reich der Mitte vor 2000 Jahren. Ein Chinese kommt wegen dem Raub einer Tabakspfeife hinter Schloss und Riegel. Gefängnis wegen einer solchen Bagatelle? Aber der Verurteilte beweist, wer seinen Kopf anstrengt, kann ihn aus der Schlinge ziehen. Er tritt vor die Mächtigen und stellt ihnen eine für sie unlösbare Aufgabe. Ihr eigenes Fehlverhalten zeigt, dass keiner eine weisse Weste hat. Jüngste Enthüllungen über Lügen und Korruption wie Kaderreisen, Spesenexzesse, Vorteilsannahmen, Vertuschungen, Bilanzfälschungen etc. beweisen die Aktualität des Stoffes.

Ein armer Mann hatte eine Tabakspfeife gestohlen, war dabei erwischt worden, und sass nun im Gefängnis. Lange überlegte er, wie er fliehen oder freikommen könnte. Eines Tages hatte er eine Idee. Er bat den Gefängniswärter, ihn zum Kaiser zu führen. «Bist Du von Sinnen, eine Audienz beim Kaiser als Gefangener ist unmöglich!», erwiderte der Wärter. «Führe mich zum Kaiser» bat der Dieb den Gefängniswärter: «Ich habe eine Kostbarkeit für ihn, die ich ihm persönlich überreichen will». «Was soll das denn sein?» «Das werde ich nur dem Kaiser allein enthüllen.»

Der Wärter verschaffte ihm schliesslich eine Audienz beim Herrscher. Und als der Gefangene vor ihm stand, zog dieser nur seine Augenbrauen hoch und sagte: «Und?» Der Dieb holte ein kleines Päckchen aus der Tasche und überreichte es dem Kaiser. Dieser öffnete es neugierig und rief ärgerlich aus: «Das ist ja nur ein ganz gewöhnlicher Birnenkern!» «Es ist aber mehr als ein gewöhnlicher Birnenkern» sagte der Dieb, «es ist eine grosse Kostbarkeit, denn wer diesen Birnenkern sät, wird eines Tages goldene Birnen ernten». «Und warum hast Du es nicht selbst getan?» fragte der Kaiser. «Säen kann diesen nur jemand, der nicht gelogen und gestohlen hat, als Dieb wäre es zwecklos für mich. Eure Majestät sind sicher unbescholten, haben nichts unterschlagen und nichts gestohlen!»

Der Kaiser blickte zu Boden, denn er erinnerte sich, dass er als kleiner Junge seinen Eltern Geld entwendet hatte. Daraufhin schlug der Dieb den Kanzler vor. Der aber trat von einem Fuss auf den anderen und meinte: «Nein, er könne den Kern nicht aussäen.» Der Kanzler war ein korrupter Mensch. Durch ihn kam nur der zu einem Posten, der ihm ordentlich Geld dafür zusteckte. Darauf schlug der Dieb den General vor. Der wurde herbeigeholt. Dieser biss sich auf die Zunge und erwiderte, er müsse unbedingt zur Truppe zurück. Die Hälfte des Wehrsoldes landete nämlich in seiner Tasche, und dazu prahlte er noch mit Heldentaten, die er gar nie vollbracht hatte. Daraufhin schlug der Dieb den Bürgermeister der Hauptstadt vor. Dieser rang die Hände, raufte sich die Haare. Er argumentierte, er müsse unbedingt zurück zu seinen Amtsgeschäften und habe weder Zeit noch Lust einen Birnenkern zu säen. Dabei waren ihm die Bestechungsgelder gegenwärtig, welche er für all die Posten in der Verwaltung einstrich. Schliesslich schlug der Dieb den Gefängniswärter vor. Dieser verwahrte sich: «Ich muss sofort zurück ins Gefängnis, sonst gibt es dort eine Revolte.» Er dachte aber an die Gelder, die er von denjenigen Häftlingen entgegennahm, welche eine Vorzugsbehandlung erreichen wollten. So fand sich niemand, der den Birnenkern aussäen wollte.

Der Dieb verbeugte sich vor dem Kaiser und sprach: «Gestohlen, unterschlagen und gelogen haben sie alle. Ich selber habe nur eine Tabakspfeife genommen und soll dafür lange Zeit im Gefängnis schmachten!». Der Kaiser aber befahl den Dieb sofort freizulassen.

Text leicht gekürzt und kommentiert: Walter Zwahlen


Chinesische Märchen, Albatros Verlag, 1990.