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Forschungsprojekt des Schweizer Nationalfonds

Unter dem Projektnamen: „Geprägt fürs Leben. Das Schweizer Verdingkinderwesen im 20. Jahrhundert: - ein (schweizerischer) Sonderfall? läuft seit Anfang 2010 ein dreijähriges Forschungsprojekt des Schweizer Nationalfonds, netzwerk-verdingt hat die drei Protagonisten dazu interviewt.
Die Details zum Forschungsprojekt finden Sie unter: www.verdingkinder.ch

Professor Ueli Mäder

n-v: In der Sozialgeschichte war Armut seit dem Mittelalter fast gleichbedeutend wie die Pest. Unter den Stigmatisierten wurden nur bestimmte Gruppen näher beleuchtet. So etwa Vaganten, Bettler und Fahrende. Kinderarbeit und Verdingkinder waren nur in Einzelbiografien ein Thema. Warum interessierte sich die Wissenschaft solange nicht dafür?

U.M: Wissenschaft dient in vielfältiger Weise herrschaftlichen Anliegen. Ansehen und Prestige hängen stark davon ab, ob das bedient und bestätigt wird, was gefragt ist. Viel Geld fliesst dorthin, wo die machtgeprägten Erkenntnisinteressen am grössten sind. Wichtige Fragen bleiben somit gerne tabuisiert. Das zeigt sich auch heute. Armut passt nicht zum Bild der Schweiz. Sie wird deshalb teilweise einfach wegdefiniert. Als „working poor“ gelten zum Beispiel nur Arme, die mindestens 90 Prozent erwerbstätig sind und weniger verdienen als der Anspruch auf Sozialhilfe ausmacht. Kinder und Haushaltsangehörige bleiben so ausgeklammert. Ebenso wie Alleinerziehende, die „nur“ 50 bis 60 Prozent Lohnarbeit verrichten, weil sie sonst noch Betreuungsaufgaben haben. Wer sozial Benachteiligte so ignoriert, täuscht sich selbst. Meines Erachtens hängt die Zukunft der Schweiz jedoch wesentlich davon ab, ob wir auch jene sozialen Realitäten einbeziehen, die nicht so ganz zum schönen Bild der Schweiz passen. Ähnliches erfahren wir derzeit auch in der Reichtumsforschung. Die kleine Schweiz sei dank ihrem Fleiss gross geworden, sagt eine gängige Auffassung. Hinzu kommen aber noch viele weitere Faktoren. So etwa die politische Stabilität und die Verschwiegenheit, zu der auch die Bereitschaft gehört, Hand zur Steuerhinterziehung zu bieten. Wer allerdings darauf hinweist, muss damit rechnen, selbst diffamiert zu werden.

n-v: Interdisziplinäre Zusammenarbeit in der Forschung ist ein junges Pflänzchen. Wie kam die aktuelle Forschung über die Fremdbestimmung zwischen Dir als Soziologen und Heiko Haumann als Historiker zustande?
U.M.: Gemeinsame Berührungspunkte gab es schon vor dem Verdingkinderprojekt. Beispielsweise über die Konfliktforschung. Wir interessieren uns beide für das, was sich im Nahen Osten tut und nicht tut. Beim Verdingkinderprojekt erhielten wir beide eine Anfrage der Initiativgruppe, die das Projekt stärker mit der Universität verknüpfen wollte. Und wir freuten uns beide über dieses Vorhaben und fanden dann die Zusammenarbeit und die unterschiedlichen disziplinären Sichtweisen als überaus bereichernd. Jetzt arbeiten wir wieder an einem grösseren Projekt zusammen. Es geht um das hundertjährige Jubiläum des Basler Friedenskongresses. Wir führen am 23./24. November 2012 an der Universität Basel eine Tagung zum Thema „Krieg und Frieden - und die Frage des Friedens heute“ durch.

n-v: Inzwischen wurden in zwei Projekten wichtige Erkenntnisse gewonnen. Aber das Thema ist noch längstens nicht erschöpft. Wieviel Forschung braucht es dafür noch?
U.M.: Ja, nun liegen wichtige Erkenntnisse vor. Das ist erfreulich. Aber viele Fragen sind noch offen. Zum Beispiel: Wie war das möglich, dass in der Schweiz Kinder solange verdingt wurden? Warum spielten kirchliche und humanitäre Einrichtungen so übel mit? Und was bedeutet das für heute? Zudem interessiert, noch mehr darüber zu erfahren, was für betroffene Kinder hilfreich war? Ja, was unterstützte sie darin, Strategien zu entwickeln, um ihre missliche Lage so gut wie möglich zu bewältigen? Und dann wissen wir noch viel zu wenig darüber, wie ehemalige Verdingkinder ihren späteren Lebensweg gegangen sind. Spannend finde ich es auch immer wieder, mit Kindern von ehemaligen Verdingkindern zu sprechen. Sie berichten etwa, wie ihre Eltern zwar alles besser machen wollten, aber den empfundenen Mangel doch weiter gaben. Auch, indem sie ihre eigenen Kinder besonders bevorteilen wollten. Diese Mechanismen liessen sich noch viel systematischer untersuchen.

n-v: Du hast im Januar in Zürich anlässlich der Medienorientierung gesagt, die Fremdplatzierung am Beispiel der Verdingkinder sei ein Verbrechen. Kannst Du das näher erläutern?
U.M.: Ich bin ja nicht prinzipiell gegen die Fremdplatzierung. Im Gegenteil. In etlichen Situationen kann die Fremdplatzierung helfen, eine Gewaltdynamik zu durchbrechen. Ich würde jedenfalls viele Familien am liebsten zwangsscheiden. Denn oft leiden Kinder darunter, dass der familiäre Stress auf sie abgewälzt wird. Kinder müssen in solchen Situationen auch emotional viel übernehmen, was sie überfordert. Das beeinträchtigt ihre Lebensperspektiven ganz erheblich. In wirklich gut geführten Heimen oder Pflegefamilien können sie eher jene respektvolle Aufmerksamkeit erfahren, die ihnen gut tut. Dank Menschen, die für sie da sind. Aber das war ja beim Verdingwesen nicht der Fall. Da wurden die Kinder in vielen Fällen wie Vieh behandelt und dazu instrumentalisiert, zu malochen und Mist zu führen. Das war ein Verbrechen.

Kurzbiografie
Ueli Mäder ist Professor für Soziologie an der Universität Basel und der Hochschule für Soziale Arbeit. Er leitet das Institut für Soziologie (im Team) und das Nachdiplomstudium für Konfliktanalysen und Konfliktbewältigung. Mit Heiko Haumann zusammen begleitete er die Nationalfondsstudie über Verdingkinder in der Schweiz und die Berner Studie über den Umgang mit Verdingkindern.

Marco Leuenberger

n-v: Dein Vater war selber Verdingkind. Hast Du als Sohn während Deiner Kindheit und Jugend von ihm Dinge mitbekommen, welche diese jahrelange Fremdbestimmung deutlich machten?

M.L: Mein Vater ist als Verdingkind anständig behandelt worden. Er musste weder Misshandlung noch Missbrauch erleiden. Er war wahrscheinlich auch besser ernährt, als bei den leiblichen Eltern. Später war ihm die eigene Familie ein sehr wichtiges Anliegen. Er wollte uns ein wirkliches Daheim bieten. Was er natürlich entbehren musste, war das Aufwachsen mit seinen Geschwistern und eine gute Schulbildung, weil er bereits im Alter von zehn Jahren als volle Arbeitskraft auf dem Bauernhof eingesetzt war. Er durfte immerhin an manchen Sonntag nach Hause und hatte zumindest hin und wieder Kontakt zu seinen Geschwistern und Eltern. Seine Verdingkinderzeit war bei uns in der Familie kein Tabu.

n-v: Wie bist Du Historiker geworden und was führte Dich dazu, Dich so intensiv mit der Geschichte der Verdingkinder zu beschäftigen?
M.L: In der Schule hatte ich einen ausgezeichneten Geschichtslehrer. Geschichte faszinierte mich, dazu kam der familiäre Hintergrund. Deshalb habe ich auch die eigene Familiengeschichte recherchiert. Heute weiss ich, dass meine Grosseltern nie armengenössig, das heisst auf Sozialhilfe angewiesen waren und trotzdem mehrere Kinder weggeben haben. Die Gründe für dieses Handeln waren mir – in der reichen Schweiz mit Versicherungen etc. für alle erdenklichen Fälle – nicht klar. Da stellte ich fest, dass zur Sozialgeschichte, zum Alltagsleben kaum etwas vorhanden war. Mir wurde bewusst, dass dieses Kapitel der Schweizer Geschichte aufgearbeitet werden muss.

n-v: Im Moment seid Ihr, Loretta und Du, an einem zweiten Nationalfondsprojekt mit dem Schwerpunkt Archivforschung in den Kantonen Bern, Solothurn und Luzern. Was ist die Intention dieser Arbeit?
M.L: Dieses Fortsetzungsprojekt gibt uns die Möglichkeit, zumindest einige der Gespräche, die im ersten Forschungsprojekt geführt aber noch nicht ausgewertet worden sind, zu analysieren. Zur Zeit konzentrieren wir uns auf die Archive in den Kantonen Bern, Solothurn und Luzern und versuchen dabei auch, den Spuren unserer Gesprächspartner nachzugehen. Was waren die Denk- und Handlungsweisen der Behörden, und wie haben das die Betroffenen erlebt. Wichtig ist uns auch der Vergleich mit dem Ausland, weil Verdingung nicht ein isoliert schweizerisches Problem ist.

n-v: Was hat die Auseinandersetzung mit diesem Thema mit Dir selber gemacht?
M.L: Sehr eindrücklich und bereichernd waren die unzähligen Kontakte und Gespräche mit unterschiedlichsten Leuten. Mein Blick auf die Welt hat sich verändert. Ich hatte zwar bereits als Kind ein grosses Unrechtsbewusstsein, das hat sich aber im Verlaufe der Arbeit noch vertieft. Die Beschäftigung mit Themen wie Familie, Armut, Arbeitslosigkeit usw. zeigt: das Bild der humanitären Schweiz ist in weiterer Mythos.

Kurzportrait:
Historiker (Lizentiat in Geschichte und romanischer Philologie an der Universität Fribourg, Doktorand an der Universität Basel und Mitarbeiter des Bundesamts für Migration.

Loretta Seglias

n-v: Du bist selber kein Verdingkind. Wie kamst Du zu diesem interessanten Thema?

L.S: Von meiner Grossmutter aus dem Bündner Oberland erfuhr ich von den Schwabengängern. Zu diesen konnte ich dann meine Lizentiatsarbeit schreiben und als Buch veröffentlichen. Danach beschloss ich, beim Thema zu bleiben. Auf der Suche nach der Fortsetzung dieser Arbeit stiess ich auf Thomas Huonker und Marco Leuenberger, welche bereits ein erstes Nationalfondsprojekt erwirkt hatten. Wir konnten zwischen 2005 bis 2008 über 240 Interviews mit ehemaligen Verdingkindern realisieren, dabei war ich zusammen mit Marco Leuenberger für die Koordination zuständig und durfte selbst mit Betroffenen sprechen.

n-v: Du hast 2004 das Buch über die Schwabenkinder in Graubünden geschrieben. Wie hat sich diese Arbeit auf Dich selber ausgewirkt?
L.S: Das Buch hatte eine grosse Resonanz, und ich konnte mich in der Folge noch vertiefter mit der Entwicklung des Kindheitsbegriffes, unterschiedlichen Formen der Kinderarbeit und Fremdplatzierung auseinandersetzen. Die Entwicklung des Sozialstaates seine Errungenschaften aber auch seine Lücken sind für mich interessant. Wie ging und geht die Gesellschaft mit den Schwächeren um? Wichtig ist mir auch der Bezug der Zeitgeschichte zu uns, zu heute.

n-v: Woran arbeitest Du jetzt?
L.S: Mit Marco Leuenberger zusammen forschen wir im Rahmen eines interkantonalen Projekts in Bern, Solothurn und Luzern. Die drei Kantone weisen unterschiedliche Formen der Fremdplatzierung auf, die wirtschaftlich, sozial aber auch konfessionell bedingt waren.
Wir untersuchen die Fremdplatzierungspraxis im ländlichen Raum im Bezug auf Familienplatzierungen im 20. Jahrhundert (1912-1978).
Dabei soll die konkrete Praxis auf kantonaler und kommunaler Ebene beleuchtet und zwischen den Kantonen verglichen werden. Welche Behörden und Private waren involviert, und was waren die Gründe für eine Fremdplatzierung? Weshalb funktionierte dabei die Aufsicht und Kontrolle nicht immer? Und was bedeutete dies für die betroffenen Kinder und Jugendlichen? Immer wieder fällt in diesem Zusammenhang der Begriff der „Verwahrlosung“, dem ich etwas genauer nachgehen möchte.
Ein wichtiger Teil der Arbeit ist die Auswertung einzelner geführter Gespräche mit Betroffenen. Ihre Lebenswelt, ihr Erinnern ist ein ganz wichtiger Zugang, um die Auswirkungen der Fremdplatzierunspraxis auf den Einzelnen, bis heute, sichtbar zu machen. Neben diesem Forschungprojekt arbeite ich als freie Historikerin. Ein wichtiger Teil dieser Arbeit ist der Kontakt und die Auseinandersetzung mit Interessierten zu unterschiedlichen Themen im Rahmen von Vorträgen und Diskussionen.

n-v: Du bist zusammen mit Marco Leuenberger Mitherausgeberin des Buches „Versorgt und vergessen“, das 40 ausgewählte Interviews mit ehemaligen Verdingkindern enthält. Welche Funktion hat dieses Standardwerk?
L.S: In diesem Buch wurden 40 Betroffene porträtiert. Sie brechen ihr Schweigen und sind bereit, oftmals mit ihrem eigenen Namen, über ihre Kindheit zu sprechen. Und dies, obwohl diese Erfahrungen oft verknüpft sind mit einer Stigmatisierung und Scham. Es zeigt, dass Verdingkinderbiografien ganz unterschiedlich verlaufen können. Das Buch richtet sich an ein breites Publikum. Auch für viele SchülerInnen und StudentInnen dient es als Einstieg ins Thema. Neben den Porträts werden von unterschiedlichen AutorInnen verschiedene Aspekte der schweizerischen Fremdplatzierungspraxis beleuchtet.
Das Buch ist in zweiter Linie auch eine Art Katalog zur Wanderausstellung „Enfances volées - Verdingkinder reden“. In dieser Ausstellung und im Buch kommen ehemalige Verding- und Heimkinder zu Wort, sie brechen ihr Schweigen und ermöglichen Betroffenen und uns allen, sich mit dem Thema auseinander zu setzen.

Kurzbiografie:
Loretta Seglias: lic. phil. Historikerin, Doktorandin am Historischen Seminar der Universität Basel, Betreuung der Dokumentationsstelle oberer Zürichsee (Archiv zur Geschichte der Seegemeinden) und freischaffende Historikerin.

Interviews: Walter Zwahlen

Buch: Versorgt und Vergessen