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Interview mit Erwin Marti

Carl Albert Loosli war zu seiner Zeit eine sehr umstrittene Figur, aber aus heutiger Sicht ein unermüdlicher Schaffer, Reformer, Gesellschaftskritiker, Visionär und in einzelnen Sachgebieten auch ein Bahnbrecher. Seine Bedeutung für das 20. Jahrhundert und der umfangreiche schriftliche Nachlass wurden durch die dreiteilige Biographie (Chronos Verlag) von Erwin Marti, sowie die im Rotpunkt Verlag aufgelegte 7-bändige Anthologie erstmals einem breiteren Publikum bewusst. Das Interview mit dem Loosli Biografen Erwin Marti soll seine Bedeutung als Journalist, Autor und Zeitkritiker verständlich machen.

Der Mann, der sein Gedächtnis verlor

n-v: Du hast eine dreiteilige Biographie von Carl Albert Loosli verfasst, die beim Chronos-Verlag erschienen ist. Und ein vierter Band ist in Arbeit. Ist die Hinterlassenschaft von C.A.Loosli so umfangreich?
E.M: Sie ist riesengross, das zeigt sich an den Laufmetern im Schweizerischen Literaturarchiv. Tausende von Briefen,und unzählige Zeitungsartikel finden sich neben all den Büchern Looslis. Auch qualitativ ist die Hinterlassenschaft einzigartig. Die Themen umfassen Erziehung, Anstalten, Jugend, Verdingkinder, Justiz, Straf- und Völkerrrecht. Mit seinem Kampf gegen die Administrativjustiz ist Loosli zu Lebzeiten allerdings gescheitert, die Gegenkräfte waren zu stark. Er war der Pionier in dieser Sache, kam aber 50 Jahre zu früh. Sachkompetenz bewies er auch in der Politik, in der Sozialpolitik, im Kampf gegen den Faschismus und Antisemitismus. Interessant ist auch, wie sich Loosli in ihm vorerst fremde Sachgebiete eingearbeitet hat. Zum Thema Kunst hatte er neben der grossen Arbeit über Hodler Einiges zu sagen. Er war mit vielen zeitgenössischen Künstlern befreundet, und es gibt von ihm ein unveröffentliches Manuskript mit dem Titel „Kunst und Brot“.

n-v: Zusammen mit dem Journalisten Fredi Lerch und dem Rotpunkt Verlag bist Du auch dafür verantwortlich, dass es heute eine Anthologie über C.A.Loosli gibt. Wie kam es dazu?
E.M: Die Anthologie kam zu seinen Lebzeiten leider nie zustande. Der erste Versuch von 1929 fiel der Weltwirtschaftskrise zum Opfer. Weitere Versuche folgten in den 40er Jahren. Um 1980 herum gab es eine kleine Sammlung seiner Werke durch den Huber Verlag. Der entscheidende Anstoss für die aktuelle Anthologie kam durch Andreas Simmen vom Rotpunkt Verlag an Fredi Lerch und mich. Diese Zusammenarbeit und Arbeitsteilung war nötig und wichtig. Die Riesenarbeit war nur
wegen unserer jahrelangen Vorarbeit überhaupt möglich. Entstanden sind sieben thematisch eigenständige Bände.

n-v: C.A.Loosli war in mancherlei Hinsicht ein Pionier. Er war ein unbequemer Mahner und vielseitiger Visionär, der ständig aneckte. Was heute für den Erfolg des Schaffens selbstverständlich ist, hat C.A.Loosli hervorragend vorgelebt, ein guter Netzwerker zu sein. Wo zeigte sich das bei ihm am deutlichsten?
E.M: Bei den Themenkreisen Anstaltsleben, Jugend und Jugendpolitik hat sich Loosli zum voraus eine Strategie für die Umsetzung ausgedacht. Er wusste genau, welche Institutionen dringend reformiert werden mussten. Dazu bediente er sich Gleichgesinnter und Verbündeter. Anstaltsleiter, die seine Ideen aufnahmen, unterstützen oder umsetzten. Wie zum Beispiel Hugo Bein, der Leiter des Basler Waisenhauses. Auch im Bezug auf die Verdingkinder oder die Schulreform verfügte er über Visionen. In einem zweiten Schritt trat er dann auch für eine Reform des Jugendrechts ein. Beim Projekt Schulreform war ihm kein Erfolg vergönnt. Loosli gehört zum Kreis der grossen Schulreformpädagogen seiner Zeit. Sein Werk dazu „Schule und Volk“ blieb leider unveröffentlicht. Ein wiederkehrendes Anliegen war ihm die Verdingkinderproblematik. Erstmals 1905. 1929 legte er ein Projekt für ein Patronat der protestantischen Kirche über das Verdingkinderwesen auf. Anstoss dazu gab ihm eine progressive Theologenbewegung. Realisiert wurde dies leider nicht. Über Verdingkinder hielt er wiederholt Vorträge. Stark engagiert war er darin in den 40er Jahren. Engen Kontakt hatte er deshalb zu Peter Surava, dem Chefredaktor der „Nation“ und dem Fotografen Paul Senn. 1946 schliesslich hatte ein Aufruf in der Sache gemeinsam mit dem Beobachter einen beachtlichen Erfolg. Loosli wollte folgerichtig die Fremdplatzierung über regionale und lokale Strukturen neu regeln. Wegen seiner Erfahrung in Trachselwald, dem jahrzehntelangen Ungenügen der Behörden war Loosli als wacher Beobachter eben auch ein Staatsskeptiker.

n-v: C.A. Loosli ist es zu verdanken, dass Jahrzehnte nach Gotthelf die Thematik Verding- und Anstaltskinder wieder aufs Tapet kam. Eri verarbeitete in zahlreichen Schriften sein eigenes Schicksal als Fremdplatzierter. Welches ist die Bedeutung der beiden Bücher Anstaltsleben und Administrativjustiz aus heutiger Sicht?
E.M: Das Buch „Anstaltsleben“ wirkte in der pädagogischen Landschaft der Schweiz wie ein Eisbrecher. Er hat damit eine breite Diskussion in Gang gesetzt. Es waren Übersetzungen ina Französische und Holländische geplant, die allerdings nicht zsutande kamen. Veröffentlicht wurden in der Westschweiz immerhin einzelne Abschnitte daraus. Der Reformprozess, den das Buch ausgelöst hat ist in der dreiteiligen Biographie detailliert beschrieben. In der Folge bekam Loosli von der Berner Regierung auch diverse Mandate zur Untersuchung und Berichterstattung über Anstalten. Er sah das herrschende Unterdrückungssystem immer in einem Gesamtzusammenhang. Loosli wollte die Strukturen des Anstalts-, Verdingkinder- und Vormundschaftswesen aufbrechen. Die illegale Praxis der Administrativjustiz beendete die offizielle Schweiz aber erst Ende 1981 auf Druck der europäischen Menschrechtskonvention.

n-v: Was hat C.A.Loosli selber konkret für die Verdingkinder getan?
E.M: Er organisierte diverse, zum Teil langjährige Kampagnen zusammen mit der Nation, dem Beobachter, dem Tages Anzeiger oder dem Vorwärts. Er pflegte die Zusammenarbeit mit verschiedensten Personen und Institutionen. In konkreten Missbrauchsfällen war er stets publizistisch präsent. Dabei schonte er niemanden. Oft auch sich selber nicht. In der Westschweizer Presse hatte er eine Kampagne unter dem Titel „Le enfants martyrs“ lanciert.¨

Interview: Walter Zwahlen

Kurzlebenslauf:
Erwin Marti, 1952 in Solothurn geboren, Studium in Bern, verheiratet, als Lehrer und Heilpädagoge in Basel tätig. Buchautor und Mitbegründer der Carl-Albert-Loosli-Gesellschaft.