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Peter May – Beim Leben deines Bruders

Krimis, die sich mit der zwangsweisen Fremdplatzierung auseinandersetzen, das immense Gewaltpotential, die Willkür und die Bigotterie der damaligen Gesellschaft schonungslos demaskieren, sind äusserst selten. Dieses Buch nun ist ein Beispiel für einen Aufbruch in ein anderes Geschichts- und Realitätsverständnis.

Peter May erzählt mit “Beim Leben deines Bruders” eine ebenso spannende wie einfühlsame Geschichte, die im Nordwesten Schottlands auf den sturmumbrausten, einsam gelegenen Hebrideninseln spielt.


Im Hochmoor von Lewis, einer der Hebrideninseln vor Schottlands Westküste, wird eine Leiche gefunden. Der Gerichtsmediziner stellt fest, dass der Tote nicht sehr lange im Moor lag und von auswärts dahin gebracht worden war. Fin Macleod ist gerade nach Lewis zurückgekehrt. Nach dem Unfalltod seines Sohnes und dem Scheitern seiner Ehe hat er seinen Job als Polizist in Edinburgh aufgegeben. Der einzige Hinweis im Fall der unbekannten Moorleiche ist eine DNA-Spur, und der Mordverdacht fällt auf Tormod Macdonald, der an Demenz erkrankte Vater von Fins Jugendliebe Marsaili. So schlüpft Fin Macleod doch wieder in seine alte Rolle – und ermittelt in einem Mordfall, der ihn in den emotionalen und historischen Abgrund seiner Heimat führt. Weil die intakten Langzeiterinnerungen des Demenzkranken tief in die Geschichte der britischen Sozialgeschichte verweisen. Die sensibel dargestellten Folgen der Krankheit Demenz erhellen in Rückblenden die Zeit nach dem 2. Weltkrieg, als katholische schottische Heim- und Waisenkinder von der anglikanisch-englischen Mehrheitsgesellschaft ausgegrenzt wurden. Über die Kirche vermittelte man sie als billige Arbeitskräfte in katholische Familien, als Verdingkinder auf Kleinbauernhöfe oder an verarmte Fischerfamilien. Entsetzliche Kindheiten geprägt von Gewalt, Ausbeutung, sexuellen Übergriffen, Einsamkeit und Ausweglosigkeit. Neben die Sicht des Ermittlers Fin treten die Erlebnisse des Demenzkranken Tormod, der seine bewegende Geschichte in Rückblenden erzählt. Aus beiden entsteht ein Gesamtbild der Ereignisse, dem sich Fin in seinen Ermittlungen nur Stück für Stück nähern kann. Aber auch der alte Mann hat mit den immer grösser werdenden Gedächtnislücken zu kämpfen und kennt sich in seiner eigenen Vergangenheit nicht mehr aus - was ist real Erlebtes, was nur Einbildung? Wer ist mit wem verstrickt? Und wer ist der Tote?

Der Schotte Peter May wurde am 20. Dezember 1951 geboren. Einer kurzen Karriere als Angestellter und Ausbilder für Automobilverkäufer folgte in den 1970er eine Ausbildung zum Journalisten. Bis zum Ende des Jahrzehnts arbeitete May für diverse schottische Zeitungen, wobei er sich auf politische Themen und Alltagsgeschichten spezialisierte. 1979 wurde May hauptberuflicher Schriftsteller. Zwischen 1992 und 1996 wirkte er ausserdem für die sehr erfolgreiche TV-Serie »Machair«, einem 99-teiligen Drama in gälischer Sprache, das er schuf, schrieb und produzierte. Peter May lebt zusammen mit seiner Frau, der Autorin Janice Hally, abwechselnd in Schottland und Frankreich.

Text: Walter Zwahlen

Beim Leben deines Bruders
Peter May
Beim Leben deines Bruders
Roman – übersetzt aus dem Englischen von Silvia Morawetz
ISBN 978-3-552-05671-8