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Interview mit E.Y.Meyer

Gotthelf war der erste Schweizer Autor, der sich im Bauernspiegel 1837 kritisch mit dem Verdingkinderunwesen auseinandersetzte. In den letzten 40 Jahren meldete sich vor allem der Schriftsteller E.Y.Meyer in mehreren Werken wiederholt engagiert zur Thematik zu Wort. Netzwerk-verdingt konnte 2011 das bisher unveröffentlichte Theaterstück „VerDingt“ als Manuskriptdruck für die Fachbibliothek käuflich erwerben.

netzwerk-verdingt: Weshalb hast Du Dich als Autor immer wieder mit dem Emmental und Gotthelf beschäftigt?

E.Y.Meyer: Mein erster Kontakt mit dem Emmental war 1962. Als Gymnasiast in Biel kam ich im Landdienst für die Kartoffelernte nach Dürrenroth. Bei dem geizigen Bauern bekam ich eine erste Ahnung, was Verdingkinder erleiden mussten. Während meiner Sekundarschulzeit verfolgte ich intensiv die diversen Gotthelf Hörspiele am Radio. Als Student war ich mit Professor Georg Jánoska befreundet, der das Emmental sehr liebte. Er lud mich nach Eggiwil ein. Später war ich einmal über Weihnachten Neujahr im Hotel Hirschen in Trubschachen zu Gast. Aus diesem Aufenthalt wurde 1973 das Buch „In Trubschachen“. Von da an habe ich mich immer mehr mit Gotthelf beschäftigt.

n-v: Im Buch „Der Ritt“, das aus Anlass des Gotthelfjahrs 2004 entstanden ist, nahmst Du auch die Verdingung als Thema auf. Ist dies eine Hommage an den Bauernspiegel?

E.Y.M.: Die Gotthelfbiografie von Walter Muschg „Gotthelf. Die Geheimnisse des Erzählers“ von 1951 gab mir die Idee zu diesem Buch. Ich war ja ganz offiziell angefragt worden, etwas zum Gotthelfjahr zu schreiben und publizieren.

n-v: 2007 wurde auf der Moosegg das Theaterstück „VerDingt“ aus Deiner Feder unter der Regie von Peter Leu erfolgreich aufgeführt. Was hat es bewirkt?

E.Y.M.: Die meisten Leute, welche das Stück sahen, waren erschüttert. Dazu war auch das Presseecho überaus positiv. Die Kinderschauspieler waren grossartig. Schade ist nur, dass es seither nicht auf einer Theaterbühne nachgespielt worden war. Was ein grosser Wunsch von mir ist.

n-v: Durch die wiederholte Medienpräsenz der Verdingkinderthematik und den Erfolg des Spielfilms „Der Verdingbub“ fand dieses düstere Kapitel der Schweizer Sozialgeschichte endlich eine breitere Öffentlichkeit. Aber leider haben sich nur wenige Deiner Schriftstellerkollegen mit dieser Thematik beschäftigt. Bist Du zufrieden, dass Du bei diesem Bewusstseinswandel mitwirken konntest?

E.Y.M.: Wir leben in einer Welt, in der Armut und Ausbeutung wieder zunehmen. Wo die Reichen immer noch reicher werden. Die Sklaverei hat nie aufgehört. Sie wird aber heute verbrämt dargestellt und beschönigt. Die Thematik der Machtverhältnisse, die Ungleichgewichte schaffen und diese weiter begünstigen, ist fast in jedem meiner Werke präsent.

Interview: Walter Zwahlen

Text aus dem Buch „Der Ritt“
Im Innenhandel die Kindersklavenmärkte. Waisenkinder, Bettlerkinder, Landstreicherkinder. Auf den Dorfplätzen ausgerufen wie unvernünftiges Vieh. „Bettlergemeinden“ genannt. „Wer will minder als zehn Taler für das Meitschi? Es ist ein gewachsenes und brav gekleidet!“ „Lasst sehen, wer will den Bub? Er ist gar ein toller und munterer! Ein halber Knecht! Oder ein ganzes Kindermeitschi!“ Umkreist von Männer und Frauen, die es von oben bis unten betrachten, musste das Kind mithören, wie es angepriesen wurde. Wie es Batzen um Batzen heruntergesteigert wurde. Und mit jedem abgemärteten Batzen wurde seine Behandlung ein ganzes Jahr umso härter, Mindersteigerungen.

Die Kinder wurden nicht an die Meistbietenden vergeben, sondern an die, denen die Gemeinde am wenigsten Kostgeld bezahlen musste. An die Mindestnehmenden. Was denen an Kostgeld fehlte, machten sie durch rücksichtslose Ausbeutung der kindlichen Arbeitskraft wett. Verdingkinder. Kinder , die zu Dingen gemacht wurden. Verdingt von den Gemeinden bei den Bauern. Man schlug sie Leuten zu, die nichts zu beissen, nichts zu brechen hatten, vielleicht nicht einmal ein Bett für das arme Ding. Unter Hudeln musste es auf dem Ofen schlafen. Musste hungern. Man verteilte die Kinder unter die Güterbesitzer. Unter alle, ohne Ausnahme. Unter Diebe und Trunkenbolde. Unter Ruchlose und Gottlose.

Wie übel der Ruf eines Hauses sein möchte, wie zuchtlos es in ihm zuging, wie bekannt die Behandlung armer Kinder in ihm war, es wurden ihm immer wieder Kinder zugeteilt. Den Kindern wurden Arme gebrochen, so dass sie erlahmten, Beine zerschlagen, dass sie verkrüppelten. Mädchen und Knaben wurden geschändet. Mit Absicht liess man Kinder verlausen, erlaubte ihnen nur am Sonntag, sich zu kämmen, und auch das nur auf demMisthaufen. Die ganze Woche hindurch mussten die Kinder sich von den Läusen zerbeissen lassen. Man marterte sie auf jede erdenkliche Weise. Man leitete sie zum Diebstahl an. Man liess sie erfrieren. Barfuss liess man sie das Vieh weiden in Nässe und Reif, schaffte ihnen erst um Weihnachten Schuhe und Strümpfe an, so dass sie für ihr Leben lang arbeitsunfähig wurden, wenn sie nicht schnell unter fürchterlichen Schmerzen starben.

Die Kleider, die sie von Paten erhielten, zog man den eigenen Söhnchen und Töchterchen an. Schenkte eine reiche Gotte einem armen Buben eine schöne Pelzkappe mit einem silbernen Troddel, musste diese sie Tag für Tag auf dem Kopf des Meistersöhnchen sehen und durfte nicht mal sagen: „Das ist meine!“ Man liess ihnen nichts. Nichts, woran sie hätten Freude haben können. Gesetzliche Armenpflicht an den Kindern. Das Leben wurde ihnen erhalten. Das Tier in ihnen ernährt. Aber man sah in ihnen nicht die Kleinen, die Jesus so liebhatte. Die Menschlein, von denen er sagte, dass ihnen das Himmelreich gehöre.

Man bekümmerte sich nicht um ihre Seelen, ja man dachte nicht einmal daran, dass sie eine Seele hätten. Man vergab sie an Leute, die von der Bestimmung des Menschen so wenig Begriff hatten als ein Heugabelstiel vom lieben Gott. So oft man wollte, hörte man den grässlichen Spruch: Der Bauer fragt einst nicht: „Kannst du beten?“, sondern er fragt: „Kannst du arbeiten?“ Menschen werden zu Dingen gemacht. Solche Dinge mussten bekannt gemacht werden. Erzählt werden.

Gotthelfs Ritt. Roman aus dem Emmental, E.Y.Meyer, Lenos Verlag, 2011
Im Hinblick auf das Gotthelfjahr schrieb E.Y.Meyer ein bemerkenswertes Ereignis aus dem Leben des jungen Vikars Albert Bitzius. Seine Reise per Pferd von Bern nach Lützelflüh war der Wendepunkt vom mehrmals vertriebenen jungen Pfarrer zum künftigen Lebensmittelpunkt und geistigen Ort als Schriftsteller in Lützelflüh. E.Y. Meyer hat es verstanden, die Komplexität Gotthelfs einzufangen und zu vermitteln. Gekonnt ist die Mischung aus Reise, Reflexion, Zweifel, Scheitern, Hoffnung und Aufbruch im Roman. Grossartig ist der Text zum Verdingkinderunwesen auf den Seiten 88-90.

Kurzlebenslauf
E.Y.Meyer wurde 1946 in Liestal/BL geboren. Kindheit in Pratteln. Jugend in Biel. Nach dem Studium der Literatur, der Geschichte und der Philosophie war er als Lehrer tätig. Seit 1974 lebt und arbeitet E.Y.Meyer als freier Schriftsteller in Bern. Längere Aufenthalte in New York, Paris, London gehören ebenso zu seinem Leben wie seine Auszeichnungen: Preis der Schweizerischen Schillerstiftung, Gerhart-Hauptmann-Preis und der Buchpreis des Kantons Bern.

Wichtige Werke:
- In Trubschachen, Roman, 1973
- Die Rückfahrt, Roman, 1977
- Plädoyer. Für die Erhaltung der Vielfalt der Natur beziehungsweise für deren Verteidigung gegen die ihr drohende Vernichtung durch die Einfalt des Menschen, Essay, 1982
- Das System des Doktor Maillard oder Die Welt der Maschinen, Roman, 1994
- Der Ritt, Roman, 2004
- VerDingt, Theaterstück, 2007

Zur Zeit im Buchhandel erhältlich:
- Eine entfernte Ähnlichkeit. Eine Robert-Walser-Erzählung, Folio Verlag 2005
- In Trubschachen, Roman aus dem Emmental, Lenos Verlag 2009
- Gotthelfs Ritt, Roman aus dem Emmental, Lenos Verlag, 2011
- Wandlung. Roman zur Jahrtausendwende, erscheint im Stämpfli Verlag im August 2012