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Versorgt und vergessen statt Kontrolle - ein Beispiel

Olga Zimmermann

Unser Ehrenmitglied Professor Pierre Avvanzino machte uns auf die Biografie Olga aus der Romandie aufmerksam. Darin wird von der Urenkelin die Lebensgeschichte ihrer Herkunftsfamilie, d.h. der Urgrosseltern, der Grossmutter, ihres Vaters mit seinen Geschwistern und hauptsächlich dasjenige ihrer Tante Olga Zimmermann beschrieben. Die Grossmutter brachte als früh verarmte Witwe am Anfang des 20. Jahrhunderts mit Näharbeiten die fünf Kinder nur unter vielen Entbehrungen durch. Olga, als ältestes Tochter, konnte später eine kaufmännische Lehre machen und fand in den 1930er Jahren eine Stelle bei der Fürsorge/Vormundschaft in der Stadt Bern.

Der gewählte Textausschnitt schildert ihren Besuch bei einem Verdingkind im Seeland in den 1940er Jahren. Darin wird deutlich, wie sie, weil sie selber Hunger und Not aus ihrer eigenen Kindheit kannte, der verlogenen Bäuerin auf die Schliche kam. Hätte die Kontrolle damals funktioniert, wären vielen Kindern Gewalt, Leid und Elend erspart geblieben. Allein durch hinschauen und hinhören hätte solche Willkür verhindert werden können.

Deutsche Übersetzung
Seite 111: Olga besucht einen Verdingbuben, der im Berner Seeland platziert ist. Der Knabe kam sie am Bahnhof abholen. Er trug ein nahezu neues Kleid, seine Schuhe waren auf Hochglanz poliert, die Haare frisch gewaschen und sorgfältig gekämmt. Er war mager und seine Kleider flatterten um den schmächtigen Körper herum. Er gab Olga zur Begrüssung die Hand. Dann marschierten sie gemeinsam Richtung Bauernhof. Sie befragte ihn, er antwortete nur kurz. Alles gehe gut. Die Pflegeeltern seien nett. Er arbeite gern im Stall. Er liebe die Tiere. Ja, die Tiere habe er wirklich sehr gern.
Die Bäuerin stand schon bereit, um meine Tante zu empfangen. Sie lud Olga ein, in der Stube Platz zu nehmen, servierte ihr Zopfschnitten mit Honig, sehr viel Honig. Dann begann sie vom Buben zu sprechen, von der Liebe, die sie für ihn empfinde, von Glück, dass sie ihn bei sich haben dürfe. Sie verwöhne ihn, gebe Geld aus, um ihm eine Freude zu bereiten. Es gebe für sie keine grössere Freude, als ihn glücklich zu wissen.Er sei aber doch sehr mager erwiderte Olga, welche dieses Geschwätz in die Enge trieb. - Er sei eben sehr heikel am Tisch, das sei sein einziger Fehler. Er esse seinen Teller nie aus, und sie sei eben zu schwach und könne ihn nicht zum Essen zwingen. Er könne zum Beispiel ohne weiteres vom Zopf kosten. Er liebe aber weder Zopf noch Honig. Sie wolle ihn damit aber nicht quälen.
Olga dachte beim Verlassendes Hofes, die Bäuerin sei ihr doch viel zu salbungsvoll in ihren Worten gewesen. Dann sah sie den Verdingbuben beim Stall an die Wand gelehnt, auf einem Bein stehend, das andere angewinkelt an der Wand ruhend. Er betrachtete sie still beim Vorbeigehen. Sein Gesichtsausdruck war bedrückt und leer. Er beobachtete sie und folgte ihr langsam mit den Augen. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. Sie musste sich sputen, wenn sie den Zug nicht verpassen wollte. Sie entschied, beim nächsten Besuch mit ihm zu sprechen. Sie marschierte durch die noch grünen Kornfelder. Es war ein herrlicher Frühlingsabend… Doch plötzlich hielt sie abrupt inne. Welches Kind hatte sie schon in derselben Position gesehen? Nur auf einem Bein stehend und das andere gegen die Wand gelehnt? Sie wollte es unbedingt wissen, weil es ihr plötzlich wichtig geworden war. In der Ferne hörte sie den Zug pfeifen… Sie müsste sich beeilen, wenn sie ihn noch erwischen wollte. Sie hörte aber nicht darauf, Sie kehrte um und eilte zum Bauernhof zurück. Denselben nachdenklichen Blick, gleichzeitig erstaunt und traurig, hatte sie bereits schon einmal gesehen. Sie musste es unbedingt wissen. Sie könnte jetzt nicht einfach so davonlaufen.
im Hof des Bauernhauses begegnete sie dem Verdingbuben wieder. Die schönen Kleider hatte er längst schon wieder abgelegt. Eine Gabel in den Händen trug er den Mist aus dem Stall. Sein schmächtiger Körper war über die schwere Last gebeugt. Er wirkte wie zweigeteilt, resigniert, abwesend. Und er bewegte sich wie ein Automat vorwärts, wie jemand, der nichts vom Leben mehr erwartet. Sie näherte sich ihm, selber von diesem jähen Wechsel überrascht, fast etwas ungläubig.
Als er sie wahrnimmt, weicht er erschrocken zurück, hält den Arm schützend vors Gesicht, als ob er Schläge von ihr erwarte. Doch sie fragt ihn nur: „Isst Du gern Zopf?“ Er schlägt die Augen nieder, zögert, fürchtet sich. Dann sagt er endlich ganz leise: - Ich habe noch nie Zopf gegessen - !!!…

Originalstelle aus dem Buch
Seite 111: Elle rend visite à un jeune garçon qui est placé dans le Seeland. Il est venu la chercher à la gare. Il est habillé d’un costume presque neuf, ses souliers sont cirés, ses cheveux viennent d’être lavés et sont soigneusement coiffés. Il est maigre cependant et ses habits flottent autour de lui. Il lui a tendu la main puis ils ont marché à côté en direction de la ferme. Elle l’interroge. Il répond laconiquement. Oui tout va bien. Les patrons sont gentils. Il aime travailler dans l’étable. Il aime les bêtes. Oh ça oui, il les aime vraiment.
La paysanne est là pour accueillir ma tante. Elle l’invite à prendre place dans la Stube, lui sert des tartines de tresse avec du miel, beaucoup de miel. Puis elle parle de l’enfant de l’amour, qu’elle lui porte, du bonheur qu’elle a de l’avoir chez elle. Elle le gâte, dépense des sous pour lui faire plaisir. Rien ne lui donne plus de joie que le sentir heureux. - Il est bien maigre pourtant, retorque Olga que ce bavardage met sur la défensive. - Il est très difficile à table, c’est son seul défaut. Il ne finit jamais son assiette et je suis sans doute trop faible, je ne sais pas l’obliger à manger. Par exemple là, il pourrait bien goûter à ma tresse, mais il n’aime pas la tresse, ni le miel d’ailleurs. Je ne veux pas l’ennuyer avec ça, vous comprenez.
Cette paysanne a un ton trop doucereux, pense Olga en quittant la ferme pour reprendre son train. Elle aperçoit le jeune garçon à côté de l’étable.Il est debout sur un pied, l’autre appuyé au mur, il la regarde passer en silence. Son visage est morne et sans expression. Il l’observe et la suit lentement de ses yeux. Elle jette un coup d’oeil à sa montre, elle doit se dépêcher, elle lui parlera la prochaine fois, sinon elle manquera son train. Là voilà qui marche vite entre les champs de blé encore verts. C’est un beau soir de printemps… Tout à coup elle s’arrête net. Quel est l’enfant qu’elle a vu une fois dans cette position. Debout sur un pied, l’autre contre le mur? Il faut qu’elle sache, cela paraît tout à coup très important. Le train siffle à l’horizon… elle devrait se hâter, mais elle ne l’entend pas, elle fait demi-tour, elle reprend la direction de la ferme. Ce regard pensif, à la fois si triste et si étonné, elle l’a vu quelque part. Il faut u’elle sache. Elle ne peut pas partir comme ça.
Dans la cour de la ferme elle croise l’enfant placé. Il a déjà ôté ses beaux habits. Il tient une fourche et sort le fumier de l’étable. Son corps fluet est penché sur la lourde charge. Il est plié en deux, résigné, absent. Il avance comme un automate qui n’a rien à attendre de la vie. Elle s’approche stupéfaite par ses changements, incrédule presque.
Lui, quand il l’a voit, recule effrayé, il entoure la tête de ses bras comme si elle allait le battre. Elle lui demande alors: - Est-ce que tu aimes la tresse? Il baisse les yeux, hésite, il a peur, puis il dit finalement très bas: - Je n’en ai jamais mangé!!!... -

Olga
Madeleine Knecht-Zimmermann, Olga, édition de l’Aire, 2014