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Interview mit Markus Schürpf, Büro für Fotogeschichte

Verdingkinder sind fotografisch nur vereinzelt dokumentiert. Die meisten Bildarchive sind nicht oder noch nicht erforscht, andere unrettbar verloren. Es wäre wichtig, dass im Rahmen der historischen Forschung auch die entsprechenden Fotografien als Zeitdokumente zur Verfügung stünden. Markus Schürpf hat netzwerk-verdingt als Fachmann dazu Auskunft gegeben.

Der Mann, der sein Gedächtnis verlor

n-v: Herr Schürpf, worin besteht hauptsächlich Ihre Tätigkeit?
Markus Schürpf: Unser Büro dokumentiert das gesamte fotografische Schaffen in der Schweiz. Aktuell sind dies 12’000 Fotografen. Davon sind auf www.foto-ch.ch aktuell rund 6’000 Artikel mit biografischen Daten. Wir sind das einzige Büro in der Schweiz, welches dies tut.

n-v: Herr Schürpf, Sie kennen durch Ihre Arbeit zahlreiche Bildarchive, die aber grösstenteils noch nicht aufgearbeitet sind, aber in einigen Fällen wichtige Belege zur Geschichte liefern könnten. Fehlt es hauptsächlich am Geld für dieses Vorhaben?
Im Bezug auf Verding- und Heimkinder besteht sicher Nachholbedarf. Die Problematik interessiert mich sehr. Dabei muss man sich bewusst sein, was die Generationen seither punkto sozialem Fortschritt geleistet haben. Ohne den wirtschaftlichen Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg wäre dies nicht möglich gewesen. Die historische Fotografie hat tatsächlich an Wertschätzung gewonnen, aber viele wichtige Archive sind noch nicht aufgearbeitet oder zu wenig bekannt. Dabei fehlt es manchmal am Geld oder am fehlenden Know How.

n-v: Die Geschichte der Verding- und Heimkinder ist durch Bilddokumente nur sehr spärlich belegt. Zum Glück gibt es das Paul Senn-Archiv. Was bedeutet diese Sammlung für Sie?
Markus Schürpf: Das Verding- und Heimkinderwesen war lange ein verdrängtes Problem, über das nur wenig berichtet wurde. Soweit bekannt, ist der Fotoreporter Paul Senn für die Schweiz der 30er und 40er Jahre eine Ausnahmeerscheinung. Ich bin 1993 durch eine Ausstellung der Fotostiftung auf ihn gestossen. 2007 konnten wir eine Retrospektive über Paul Senn im Kunstmuseum in Bern realisieren. Dabei merkten wir, dass Paul Senn praktisch als Einziger diese Thematik fotografierte. Aber ohne die entsprechenden illustrierten Zeitungen und offenen Chefredaktoren wäre das nicht gegangen. Dank Peter Surava wurden seine kritischen Reportagen in den 40er Jahren in der Nation überhaupt publik gemacht. 1940 veröffentlichte er in der linken Illustrierten „Der Aufstieg“ ganze Serien über Anstalten, z,B. über die Waldau, den Thorberg, oder auch das Kinderheim in Oberbipp. Eine andere brisante Reportage handelte von der Aarburg, zu der C.A. Loosli die Legenden schrieb. Eine dritte Plattform war am Anfang der 50er Jahre die Schweizer Illustrierte, welche die Bilder Senns übernahm, sich aber in der Sache nicht engagierte.
Paul Senn war nicht nur sozialkritisch engagiert und fotografierte Not, Arbeitslosigkeit und andere Missstände während der Krise der 30er Jahre und dem Zweiten Weltkrieg. Er war ein bewunderswerter Allrounder. 1939, 1946 und 1951 bereiste er während mehrer Monate die USA und brachte an die 10'000 Aufnahmen zurück, in denen er eine breite Lebenspalette dokumentierte, immerhin ein Zehntel des gesamten Archivs.

n-v: Das Bildarchiv des Glarner Fotografen Emil Brunner wäre fast in einer Schuttmulde gelangt. Kennen Sie andere ähnliche Archivgeschichten?
Markus Schürpf: Wie auch sonst im Leben wird weggeworfen, was nicht mehr gebraucht wird. Bei Archiven von Fotografen ist das oft nicht anders. Zum Glück begann im letzten Jahrhundert, nach dem Zweiten Weltkrieg, ein Umdenken. Man erkannte, dass auch Fotografien national bedeutende Zeitdokumente darstellen. In der Folge wurden ganze Archive an diverse Institutionen übergeben. Darunter befindet sich auch das Archiv des Dorf- und Wanderfotografen Ernst Hiltbrunner, der selber ein Verdingkind war. Er zeigt in seinen Fotografien das bitterarme Leben im Heimarbeitermilieu in den Jahren 1920 bis 1950 im Kleinemmental hinter Huttwil. Über ihn enstand 1994 mein erster Buch, das aber leider vergriffen ist.

Interview: Walter Zwahlen

Kurzbiografie:
Markus Schürpf wurde 1961 in Aarau geboren. Nach der Fachklasse Freie Kunst in Luzern absolvierte er in Bern Studien in Kunstgeschichte, Ethnologie und Architekturgeschichte .
Seit 1999 führt er in Bern das Büro für Fotografiegeschichte. Neben den Projekten, die das Büro realisiert, ist er als Autor, Ausstellungsmacher und Berater tätig.