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Sittenwächter seit mehr als 2000 Jahren

Relief Chorgericht

Das Steinrelief aus dem Jahre 366 vor Christus macht deutlich, wie lange schon solche selbsternannten oder von Staat und Kirche eingesetzten und instrumentalisierten Sittenwächter die Mitmenschen terrorisieren konnten. Es ging den Mächtigen statt um das eigentliche Wohl der Individuen hauptsächlich um Kontrolle und abschreckendes Exempel. Am schlimmsten wüteten Eiferer und Fanatiker. Nicht eben selten geprägt von fixen Ideen, willkürlichen Tabus oder auch getrieben von eigenen verborgenen Defiziten und Täterallüren. Gerade die Ärmsten waren fast ausschliesslich die willkommenen Opfer dieses Instrumentariums. Und gerade durch Missgunst, Verleumdung und Meineid verloren selbst Unbescholtene Reputation und Existenz.

Die Chorgerichte bezeugen seit der Reformation im 16. Jahrhundert am besten die Ausmasse dieses Gesinnungsterrors. In der historischen Aufarbeitung der Sozialgeschichte ist diese Thematik leider immer noch kaum präsent. Weil Augenzeugentexte nicht existieren und die schriftlichen Quellen nur einseitig über die Opfer berichten, fehlen deshalb auch Informationen über Stand, Funktion, oekonomische Abhängigkeiten und familiäre Verstrickungen des jeweiligen Richtergremiums. So ist es ein offenes Geheimnis, dass vielfach die Dienstherren oder deren Söhne die verdingten Mädchen oder Dienstbotinnen schwängerten. Die Tat wurde verleugnet oder verschwiegen, die Opfer beschuldigt und verstossen. Das schrecklichste Zeugnis für die unmenschliche Praxis des Sittengerichts ist das Beispiel des Geburtsverhörs.

Das Geburtsverhör
Die Geschichte berichtet über gemeine Dinge, die der Mensch sich ausdenken kann. Zum Beispiel das Geburtsverhör, das vor zweihundert Jahren in der Schweiz noch Brauch war. Die Basler Journalistin Linda Stibler stiess per Zufall auf das Thema und wollte es genauer wissen. Sie durchforstete Archive und grub ein Stück Historie aus, von dem wohl kaum jemand wusste. Entstanden ist ein Buch, das elegant Fiktion und Fakten miteinander verschränkt - ein Roman, der mehr ist als ein Roman.

Anfang des 19. Jahrhunderts hatten es schwangere, ledige Frauen besonders schwer, weil die meisten aus armen Verhältnissen stammten. Stibler zeichnet die Geschichte der lebenslustigen Anna aus Nusshof im Baselbiet nach, die sich von Heinrich, einem jungen Mann aus besserem Hause, verführen lässt, da er an ihr Gefallen fand und ihr auch die Heirat verspricht. Anna wird schwanger, Heinrich streitet die Vaterschaft ab, weil seine reichen Eltern gegen die Verbindung sind. Die damalige Gerichtsbarkeit wollte, dass solche Frauen wie einem Geburtsverhör unterzogen wurden. Man glaubte, unter den Geburtsschmerzen würden die Frauen nicht mehr schweigen oder lügen und den richtigen Namen des Kindsvaters nennen. Ein entwürdigendes Ritual, welches heute als Folter gilt. Zwei Männer setzten sich in die Kammer und fragten Anna, während sie unter den Wehen vor Schmerzen schrie, immer und immer wieder nach dem Namen des Vaters. Anna aber liess sich nicht beirren und blieb bei der Aussage, es sei Heinrich der Kindsvater. Das kostete sie fast das Leben, weil ihr während des Verhörs niemand beistand. Der Junge, den sie gebar, kam tot zur Welt.

Text: Walter Zwahlen


Linda Stibler
Das Geburtsverhör
Roman, 176 Seiten, gebunden, ISBN 978-3-905561-71-5, Verlag eFeF


Videotrailer der Theateraufführung "Das Geburtsverhör", szenisches Dokument über ein Tabu. Regie: Dalit Bloch, für die Bühne frei bearbeitet von Ursula Werdenberg nach der Erzählung von Linda Stibler.