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Ein Kulturwandel im Stadtarchiv in Bern

Yvonne Pfäffli

Viele der zwangsweise Fremdplatzierten, seien es ehemalige Pflege-, Waisen-, Heim- oder Pflegekinder, versuchten nach mehrheitlich schlechten Erfahrungen mit Behörden in der Kindheit, Jugend und sogar oft im Erwachsenenleben den Kontakt mit Amtsstellen zu meiden. Nicht wenige, die es wagten, nach ihren Vormundschaftsakten zu fragen, wurden abgewiesen, brüskiert. Oft wurde behauptet, es gebe keine Akten mehr, um die angeblichen Störenfriede abzuwimmeln. Gemeinden, Städte und Kantone betrachteten diese Akten lange als Eigentum oder verschanzten sich hinter dem Datenschutz. Noch wurde solchen Institutionen nicht klar, dass es ein legitimes Recht auf Akteneinsicht gibt. Ein tolles Vorbild ist das Archiv der Stadt Bern. Mit dem Generationenwechsel und der neuen Mannschaft kam es glücklicherweise zu einem Kulturwandel. Endlich verstand sich diese Dokumentationsstelle als Dienstleistungszentrum für die Bürger. Wir sprachen mit Archivarin Yvonne Pfäffli vom Stadtarchiv Bern:

netzwerk-verdingt: Was bewirkte diesen Gesinnungswandel?
Yvonne Pfäffli: Seit 1993 gilt im Kanton Bern das Öffentlichkeitsprinzip. Damit hat jede Person ein Recht auf Einsicht in amtliche Akten, soweit keine überwiegenden öffentlichen oder privaten Interessen entgegenstehen. Dies gilt für Betroffene wie auch für Forschende. Das Stadtarchiv unterliegt aber auch dem kantonalen Datenschutzgesetz. Dieses Gesetz dient dem Schutz von Personendaten. Archive bewegen sich also stets im Spannungsfeld zwischen Datenschutz und Informationsrecht. Neben dem Rechtlichen hat sich aber auch die Ausrichtung vieler Archive geändert. Früher wurde „nur“ archiviert, heute wird archiviert, um Akteninhalte zu vermitteln. Hoffe wir, dass der Gesinnungswandel weiter in diese Richtung geht!

n-v: Zeigt sich die neue Politik bereits in den Kontakten/Anfragen um Akteneinsicht?
Y.P.: Ja, wir haben eine enorme Zunahme an Anfragen von Personen, die ihre eigenen Akten einsehen möchten. Auch Nachkommen von Betroffenen kommen nun vermehrt ins Stadtarchiv und interessieren sich für die Akten ihrer verdingten Mütter oder Väter oder Grosseltern. Meistens bieten diese noch den einzigen Zugang zu Geschehnissen, über welche die Direktbetroffenen selbst aus Scham nie gesprochen haben.

n-v: Die Dossiers wurden über die vielen Jahrzehnte ganz unterschiedlich archiviert. Auf welche Schwierigkeiten stossen die Betroffenen dadurch möglicherweise?
Y.P.: Nicht alle Akten müssen gleich lange aufbewahrt werden und schon gar nicht alle Akten schaffen es ins Archiv, um dort dauerhaft aufbewahrt zu werden. Darum hat nicht jede Gemeinde/Stadt dieselben Akten aus der Vergangenheit in ihren Kellerräumen gelagert. Im Stadtarchiv wurde glücklicherweise der Bestand der Fürsorgedossiers 1920-1960 gerettet und alle 30‘000 Dossiers ins Archiv gegeben. Leider ist die Ablageordnung verloren gegangen. Einzelne Dossiers zu suchen und zu finden, braucht deshalb viel Zeit und Knowhow. Für die Betroffenen braucht es demnach auch etwas Geduld und Ausdauer – und leider in vielen Gemeinden immer noch Hartnäckigkeit – um an die Akten zu gelangen. Da die Akten oft auch Informationen über Geschwister enthalten, ist teilweise deren Einwilligung erforderlich/erwünscht.

n-v: Worauf muss ein(e) Betroffene(r) gefasst sein, wenn er bei Euch Einsicht in sein Dossier bekommt?
Y.P.: Die Akten wurden von den Behörden angelegt. Die Sicht der erwachsenen Unterstützten findet sich z.B. in den Fürsorgedossier selten, manchmal in Form eines Zitats, höchstens in Form eines Briefs. Die Wahrnehmung von unterstützten Kindern findet sich noch viel weniger. Die Akten zeigen aber oft die Umstände der Eltern und deren Wohn- und Arbeitssituation auf. Die Eltern stehen im Fokus und deren Beurteilung durch die Behörden reichen von vernichtend (liederlich, arbeitsscheu) bis zu sehr wohlwollend (fleissig, rechtschaffen, arbeitsfähig, gesund) und deshalb unterstützungswürdig. Ich denke, für viele Betroffene bedeutet es sehr viel, endlich „die Akten“ zu sehen, in den Händen zu halten und darin zu lesen. Akteneinsicht schafft Klarheit, obwohl die Inhalte auch wieder neue Fragen generieren.

Interview Walter Zwahlen

Kurzbiografie:
Yvonne Pfäffli, Jg. 1979, verheiratet, wohnhaft in Lyss, Studium der Geschichte und der Politikwissenschaften an der Uni Bern, Weiterbildung in Informationswissenschaften an der HTW Chur, seit Okt. 2012 im Stadtarchiv Bern als Archivarin tätig. Meine Grossmutter väterlicherseits war auch ein Verdingkind.

„Die Fesseln der gequälten Menschheit sind aus Kanzleipapier“
Franz Kafka



Olga
Kleiner Ausschnitt der lagernden Akten. (Bild Walter Zwahlen)

25.3.–25.4. 2015
Auf der Suche nach der eigenen Geschichte – Fremdplatzierungen in Bern 1920-60
Ausstellung im Kornhausforum Bern