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Die Vergangenheit ist ein fremdes Land

Vergangenheit

Vergangenheitsbewältigung - ein grosses Wort. Jeder Mensch hat Unbewältigtes und Belastendes aus früheren Jahren seines Lebens. Dinge, die ihm bewusst sind, solche, die er verdrängt, vergisst, die ihm lange verborgen waren oder die ihn immer noch schmerzen, belasten, verfolgen oder beeinträchtigen (manchmal in Alpträumen). Ein Beispiel traumatischer Prägung ist Einschüchterung. Sie wird zum perfiden Instrument der Disziplinierung. Für das Opfer verbunden mit der Botschaft, jeder Schritt kann der falsche sein. Der Übergriff wird so zum Bann oder Hemmschuh in der Entwicklung.

Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen.
William Faulkner

Nichtverarbeitetes aus der näheren oder ferneren Vergangenheit wird auf lange Sicht zur ungeliebten Hypothek. Jeder Mensch versucht irgendwie, damit fertig zu werden. Aber Verdrängtes, Unverstandenes und Schmerzhaftes überfordert ihn und kocht weiter. Sehr oft auch deshalb, weil kaum jemand einen Weg aufzeigt, wie man damit fertig werden könnte. Ganz besonders gilt dies für Menschen, welche als Kinder ein schweres Los hatten. Hunger, Kälte, Gefahr, Gewalt, Flucht, Einsamkeit, Erniedrigung etc. erlebten, nicht zuhause bei den Eltern aufwachsen durften und deshalb ganz besonders ausgesetzt waren.

Alle zwangsweise Fremdplatzierten wie Waisen, Pflege-, Heim- und Verdingkinder. Für sie galt, einmal diesen Zuständen entronnen, die schweren Zeiten möglichst hinter sich zu lassen und möglichst schnell alles Peinigende von damals zu vergessen. Leider ist aber die Vergangenheit unerbittlich. Sie gibt erst Ruhe, wenn wir ihr uns stellen, das Erfahrene aus unterschiedlicher Optik betrachten lernen, verarbeiten, verstehen und so überwinden. Die Vergangenheit fordert uns auf: Raus aus der Ohnmacht und Qual.

Jeder Mensch muss dies auf die ihm angemessene Weise tun. Meist kein einfacher Weg, dazu verbunden mit Stolperfallen, Umwegen, Rückschlägen. Manche müssen wagen, Hilfe anzunehmen, Unterstützung zu fordern, damit sie auf diesem Weg endlich vorankommen. Nur Erfolge in diesem Bemühen bringen uns weiter. Die verdrängten Erinnerungen wirken wie Tretminen, die jederzeit explodieren könnten. Blinde Flecke, verordnetes Schweigen, Tabus, Schuld, Scham und Absprachen innerhalb einer Gemeinschaft oder Sippe wirken wie Sperrzonen bei der Aufarbeitung, weil jeder darin Betroffene an diesen Übeln aus der Vergangenheit krankt und nicht selten sogar selbst verhindern will, dass sich etwas bewegt, weil der Schmerz unerträglich ist. Auch deshalb, weil kritische Fragen stets abgeblockt, brisante Themen ausgebremst, Alternativen verneint wurden. Wer aufmuckte, den verstiess, isolierte, ächtete oder bestrafte man. Statt Offenheit, Vertrauen und Klarheit keimte Distanz, Misstrauen und Trennung.

Hier braucht es das Engagement jedes Einzelnen, diese scheinbar unverrückbaren Barrieren aufzudecken und niederzureissen. Dazu gehören vor ab Mut und Bereitschaft, jetzt die wichtigen Fragen zu stellen. Gerade weil man ihnen früh abgewöhnt hat, dies zu tun. Es ist ein Ausbrechen aus der verordneten Abhängigkeit, dem fremden Zwang, dem sich Fügen zu müssen, dem Alles hinnehmen, der falschen Demut und dem Gefängnis, keine Rechte zu haben. Solche Fesseln zu sprengen, ist eine Lebensaufgabe. Diese Befreiung dient der Selbstfindung. Ein Prozess, der dazu führen sollte, dass es fortan heisst: nicht mit mir oder nicht mehr mit mir.

Fast jeder Mensch hat irgendein dunkles Kapitel in seinem Werdegang, das ihn mehr oder weniger beschäftigt. Sei es, dass das Grundvertrauen erschüttert wurde, sei es eine Wut, die nie ein Ventil bekam, sei es ein Gefühl, betrogen, verraten, sabotiert, übergangen worden zu sein. In Biografien und literarischen Texten finden sich solche Momente. Schreiben ist nur eine von vielen Möglichkeiten, sich diesen unangenehmen Themen zu stellen und sie zu entschärfen. Mit dem Schreiben werden nicht nur Handschellen und Hemmschwellen überwunden. Gewalt, sexuelle Übergriffe, Not, Hunger, Stigmatisierung, Isolation, Strafen, Krieg und die ganze Skala von möglichen Verletzungen als einige Beispiele solcher Willkür.

Die Vergangenheit muss reden, und wir müssen zuhören. Vorher werden wir und sie keine Ruhe finden.
Erich Kästner

Text: Walter Zwahlen

Drei Generationen (Familienfoto). Die Zukunft noch vor sich.
Schule. Heimkind.