Zeitzeugen

 
Albrecht Zaugg

Ich wurde als zehntes von dreizehn Kindern 1933 geboren. Meine Eltern führten einen kleinen Bauernbetrieb. Als ich fünf Jahre alt war, wurde mein Vater lungenkrank und von da an nie mehr gesund.

Wir waren arm, hatten aber genügend Essen, Kleider und vor allem die Geborgenheit in unserer Familie. Unsere Mutter hätte uns trotz allem behalten und das Bestmögliche aus der Situation gemacht, doch die Gemeindebehörde schaltete sich ein und fand, dass ich und zwei meiner Geschwister endlich eine strenge Erziehung bräuchten, um Arbeiten zu lernen.

Als ich gerade einmal sechs Jahre alt war, kam ein Mann mit Ross und Wagen von der Gemeinde Gondiswil und hielt bei unserem Hof an. Er schrie meine Mutter an: „So, gib doch diesen Bengel, dann lernt er endlich arbeiten!“ Diesen Tag und die rohe Stimme des Mannes werde ich wohl nie vergessen. Ich wurde zu einem Garten- und Gemüsehändler gebracht, der nebenbei auch noch Marktfahrer war. Dort lebte noch ein Mädchen, das auch verdingt war. Wir mussten beinahe jeden Tag mit einem Wägelchen Pferdemist sammeln, den er für seinen Garten brauchte. Das war 1939, als es auf der Strasse fast nur Pferde gab. Brachten wir zu wenig Mist nach Hause, so mussten wir ohne Essen ins Bett.

Einmal verliefen wir uns mit dem gesammelten Mist und fanden nicht mehr nach Hause. Wir irrten im Wald herum. Es war schon dunkel, als uns ein Mann fand und nach Hause brachte. Es war ein schrecklicher, unvergesslicher Abend, dessen Bilder ich bis heute nicht aus meinen Erinnerungen löschen konnte. Der Mann schlug uns fast zu Tode. Als ob dies nicht schon genug gewesen wäre, schleppte uns die Frau in die Waschküche und liess siedend heisses Wasser in die Badewanne laufen. Sie schloss die Türe ab und sagte: „Öi will i scho lehre, rächtziitig hei z'cho!“. Aus Angst schrien wir beide wie am Spiess, so dass der Nachbarshund bellte. Unser Nachbar kam herbei, er wusste, was das für Leute waren, und schlug die Türe ein, weil die Frau diese nicht öffnen wollte. Das Mädchen hatte sie leider schon ins heisse Wasser gesteckt. Es musste mit schweren Verbrennungen am selben Abend ins Spital gebracht werden, und so wie es mir einmal gesagt wurde, starb es sogar daran.

Da ich stark unterernährt war, kam ich von dort ins Spital nach Huttwil. Das war für mich der Himmel auf Erden! Nach einem längeren Spitalaufenthalt wurde ich zu einem kinderlosen Ehepaar in den Rohrbachgraben gebracht. Diese Leute waren nicht böse mit mir, aber die Frau war fanatisch religiös. Lernen brauchte ich in ihren Augen nicht viel, es genügte, wenn ich die Bibel in- und auswendig kannte.

Meine Geschwister waren nur einen Kilometer von mir entfernt untergebracht, doch wir durften nie zusammen sein, weil ihr Pflegevater das nicht wollte! Im August 1948 kam die Nachricht, dass unser Vater im Sterben lag. Ich und meine Geschister sollten sofort nach Hause kommen. Als ich auf dem Weg dahin bei meinen Geschwistern vorbeikam, kam der Bauer und fuhr mich barsch an: „Was wetsch du da?“ Ich sagte ihm, dass unser Vater im Sterben sei. Doch er meinte nur kalt: „Geh weg, der kann auch ohne euch sterben.“

Beinahe täglich wurde mir in der Schule klargemacht, wie dumm ich sei, und dass ich es sowieso nie zu etwas bringen würde. Aber da hat sich mein Lehrer getäuscht! Mein ältester Bruder übernahm die Vormundschaft, ich konnte eine Lehre als Krankenpfleger absolvierenund machte im Oktober 1958 das Diplom. Im Berner Inselspital konnte ich 19?? eine Stelle als Operationspfleger antreten, die aber eine zweijährige Fachausbildung erforderte . Diese Weiterbildung schloss ich 19?? erfolgreich mit dem Fachausweis ab. Neun Jahre später wurde ich am Regionalspital Thun Leiter vom OP- und Gipszimmer-Fachpersonal, wo ich 31 Jahre bis zu meiner Pensionierung tätig war.

Dass meine Geschwister und ich auseinandergerissen wurden, hat unseren Zusammenhalt sogar eher verstärkt. Noch heute pflegen wir den Kontakt zueinander. Ich lebe mit meiner Frau in Steffisburg und geniesse mit ihr und den beiden Kindern jeden schönen Tag. Eine Wiedergutmachung gibt es für das Erlittene nicht, da die Leute, die diese Verbrechen an uns Kindern begangen haben, schon längst tot sind.

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