Zeitzeugen

 
David Gogniat

Ich wurde am 19. Januar 1939 im Berner Frauenspital als uneheliches Kind geboren. Mein leiblicher Vater war damals von seiner Frau aus erster Ehe bereits geschieden. Aus dieser Ehe habe ich noch eine Halbschwester. Nachdem ich meine Akten erhalten habe, suchte ich lange nach ihr und fand sie durch die Unterstützung zweier Personen gleichen Familiennamens vor kurzem und lernte sie endlich kennen. Meine leiblichen Eltern haben dann auch irgendwann geheiratet. Aus dieser Ehe gingen 1940 eine erste Schwester, 1941 eine zweite und 1943 ein jüngerer Bruder hervor. Wir lebten damals in einer Wohnung im Murifeld in Bern. An meinen Vater habe ich keine Erinnerung, weil ich noch ein Kleinkind war.

Weil der Vater plötzlich die Familie verliess, bekamen wir alle einen Vormund. Aber meine Mutter wehrte sich für uns vehement. 1948 wurden meine drei jüngeren Geschwister gemeinsam zu einer Pflegefamilie in Feutersoey verdingt. Ich selber machte die 3. Primarklasse noch in Bern. Im April 1949 tauchten eines Tages zwei Polizisten bei uns auf und wollten mich ebenfalls für eine amtlich verfügte Fremdplatzierung abholen. Da meine Mutter eine stattliche Frau war, warf sie die beiden Polizisten aus dem Hochparterre die Treppe hinunter. Einen Tag später tauchten drei Polizisten auf und erzwangen das Behördenverdikt. Meine Mutter begleitet mich aber zum Pflegeplatz ebenfalls in Feutersoey. Ich kam zu einer kinderlosen Kleinbauernfamilie und musste dort von Beginn weg einen Knecht ersetzten, da der Pflegevater teilinvalid war. Dort blieb ich gezwungenermassen bis zum Ende der Schulzeit.

Schule hatten wir nur im Winter. Vom Frühling bis Ende Herbst waren wir auf der Alp, wo ich als Zusenn weiter ausgenützt wurde. Auf dem Talhof begann die Tagwache um fünf Uhr morgens mit Stallarbeiten. Da der Bauer, ein fauler Hund war, ging er meist erst um fünf Uhr nachmittags in den Stall, so dass Misten, Füttern und die Arbeit mit den Schweinen auch für mich oft bis nach 21 Uhr dauerten. Danach gab es Nachtessen. Erst um 22 Uhr abends hatte ich Zeit für die Schulaufgaben. Schinderei und Ausbeutung pur. Da der Bauer ein hinterhältiger Typ war, durfte ich nicht melken und lernte dies erst später. Sagen durfte ich davon niemand etwas.

Die Mitarbeiterin des Jugendamtes der Stadt Bern, Frau Madörin, kam nur einmal pro Jahr auf Voranmeldung zu Besuch. Ich wurde dafür speziell eingekleidet, man schäfte mir ein, nicht zu klagen. An diesem Tag musste ich nicht arbeiten und bekam ein anständiges Zvieri. Meinen Vormund sah in dieser Zeit nie. Im Zimmer, das man der „Kontrolleurin“ zeigte, war ich selber nie drin. Ich schlief im ungeheizten Gaden. Trotz der Behinderung war der Pflegevater jederzeit für Strafen und Prügel zu haben.

Am Ende der Schulzeit wollte ich eigentlich Mechaniker lernen. Weil eine Berufslehre damals kostete, kam das nicht in Frage, Offen standen nur die drei Berufsgattungen Kaminfeger, Bauer oder Gärtner. So entschied ich mich für das Bauernlehrjahr. Herr Wyss vom Jugendamt der Stadt Bern begleitete mich zur ausgewählten Stelle. Auf der langen Bahnfahrt ins Welschland sagte er mir, ich hätte Frau Madörin über die Missstände am Pflegeplatz in Feutersoey berichten müssen, dann wären die Behörden eingeschritten. Dabei ignorierte er, dass ich überhaupt keine Gelegenheit dazu gehabt hätte.

Ein kinderloser Bauer war bereit mich für das Bauernlehrjahr zu nehmen, stellte aber die Bedingung, dass ich die Ausbildung in der Rüti bei Bern mache, da ich danach als Nachfolger auf seinem Hof vorgesehen war. Das zweite Lehrjahr absolvierte ich auf einem Bauernhof in Bätterkinden. Als ich nach Genf zurückkehren wollte, verunglückte der Traktorfahrer des grossen Guts in Bätterkinden. Die beiden Bauern verständigten sich, dass ich auf Verlangen des Genfer Bauern diese vorübergehende Stelle wegen der Zwangslage erst im Herbst verlassen könne. Dieser Genfer Bauer versuchte mich zwei Mal telefonisch zu erreichen, und ich hätte zurückrufen sollen. Diese Anrufe wurden mir aus Eigennutz des Bätterkinder Bauern nicht ausgerichtet, da er auf meine dringend benötigte Arbeitskraft nicht verzichten wollte. Weil das Haustelefon im Schlafzimmer installiert war, blieben mir diese Kontaktversuche verborgen. Beim dritten Anruf war ich zufälligerweise zugegen und wurde von der Bäuerin mit dem ersten Lehrmeister verbunden.

Nach Kenntnis der infamen Sachlage und des fiesen Täuschungsmanövers wurde ich so wütend, dass ich beschloss den Bauernberuf aufzugeben. Ich machte dann die Lastwagenprüfung, arbeitete danach einige Jahre als Chauffeur bevor ich mich 1964 selbständig machte. Meine Mutter blieb nachdem die Familie durch den Behördenentscheid auseinandergerissen, wir vier Kinder verdingt und die Ehe mit meinem leiblichen Vater geschieden worden war in Bern und arbeitete als Putzfrau. Von ihrem kargen Lohn musste sie noch das Kostgeld für uns berappen. In der Korrespondenz, die ich nach ihrem Tod fand, stellte ich fest, dass sie für uns Kinder wie eine Löwin gekämpft hatte. Dafür bin ich ihr ewig dankbar.

zurück

Foto:
KEYSTONE/Peter Klaunzer