Zeitzeugen

 
Heinz Egger

Mein Lebensweg in die Gesellschaft als Pflegekind...
Im November 1934 kam ich als viertes von sechs Kindern in der Berner Altstadt, genannt Matte, zur Welt. Man gab mir den Namen Heinz-Rudolf. Kurz nach der Geburt wurde ich, wie auch die drei älteren und die beiden jüngeren Geschwister, meiner Mutter, die bei meiner Geburt bereits 49 Jahre alt war, aus was auch für Gründen, weggenommen und in ein Säuglings- oder Kinderheim gesteckt. Hier durfte, oder musste ich also die ersten 12 Monate, meist wohl in horizontaler Lage, ohne Bewegungs-Therapie, ausharren. Was vermutlich auch der Grund ist, dass ich bis heute meine beiden Ellbogen nicht ganz durchstrecken kann. Durch auffallendes Benehmen, vermutlich Geschrei und Verrenkungen erweckte ich jetzt Aufmerksamkeit, so dass ein Arzt zugezogen wurde, der an mir eine Blinddarm-Entzündung diagnostizierte und mich sogleich in ein Spital einweisen liess, wo man mir den Wurmfortsatz entfernte.

Pflegefamilie
In der Zwischenzeit wurden durch den mir zugeteilten Vormund und der Vormundschafts-Behörde der Stadt Bern, ein Ehepaar gefunden, das bereit war, mich, wie ein eigenes Kind bei sich aufzunehmen und mir ein liebevolles zu Hause zu bieten. Der Umzug in mein neues Heim fand am Silvester 1935 statt und war für mich, laut Aussage meines Onkels, nicht ganz ohne. Begleitet von einer Pflegerin der Vormundschafts-Behörde, wurde ich von Bern via Solothurn und den Rest des Weges mit dem ehrwürdigen Bipper-Lisi, nach Wiedlisbach gebracht. Mein Onkel nahm mich in Empfang, da mein zukünftiger Pflegevater seine Arbeitsstelle auch an Silvester nicht verlassen durfte, um mich abzuholen. Viereinhalb Kilometer lang und ca. vierhundert Meter Höhendifferenz hatte der gute Onkel vor sich, um mich bei Kälte und im tiefem Schnee, hinauf nach Farnern zu ziehen, wo ich in die künftige Obhut kam. Der Ort, der für mich noch heute, Heim und Geborgenheit bedeutet. Wie alle Kinder im Dorf wuchs ich bei meinen Pflegeltern wie ein eigenes Kind heran. Meinen Pflegeeltern wurde aber vorerst nicht erlaubt, mich zu adoptieren, da mein leiblicher Vater, mich noch nicht zur Adoption freigeben wollte. Ich blieb also immer noch ein bevormundetes Kind. Die Vormundschaftsbehörde bestimmte deshalb weiter über meine Geschicke. Für meine Pflegeeltern war die Situation nicht leicht, aber sie taten alles, um mir ein gutes und gesundes Aufwachsen zu ermöglichen. Sie selber stammten beide aus kinderreichen Familien und mussten neben der Schule auf fremden Bauernhöfen arbeiten, damit sie zuhause genug zu essen hatten. Am der Tag der Mobilmachung 1939 musste der Pflegevater ins Militär einrücken. Glücklicherweise erhielten wir Lebensmittel- oder Rationierungskarten. Bis 1941 verlief mein Leben in einem geordneten- gesunden und moralisch guten Umfeld weiter. Ich passte aber für die eine oder andere Person einfach nicht ins Dorfbild und so kam es zu einer für mich verhängnisvollen Klage vor Gericht.

Heimversorgung
Das Urteil war vernichtend: Ich wurde zu fünf Jahren Nacherziehung in die Knaben-Erziehungs-Anstalt Landorf bei Köniz verurteilt. Meine Pflegeeltern wurden angewiesen, mich an einem vorbestimmten Datum, in die Kanzlei meines ,,so hilfsbereiten und vorsorglichen Vormundes‘‘, zwecks Übergabe nach Bern zu bringen. Es drückte uns allen drei fast das Herz ab, so für unbekannt lange Zeit, voneinander scheiden zu müssen. Ein zweiter bitterer Moment, den ich nie vergessen werde, kam, als ich mich auf dem Fürsorgeamt von der Pflegemutter trennen musste. Danach brachte mich ein Amtsfräulein mit dem Bus nach Köniz und von dort zu Fuss ins Landorf. Ganze fünfeinhalb Jahre dauerte meine Verbannung in dieser Nacherziehungsanstalt.

1946 Wechsel als Verdingbub zu einem Bauern
Bei einem Bauern in Attiswil bekam ich ein neues Zuhause. Dort hatte ich ab und zu Gelegenheit, meinen geliebten Pflegevater auf seinem Arbeitsweg zu sehen und mit ihm ein paar Worte auszutauschen. Ich besuchte jedoch viel lieber die Schule, als auf dem Hofe zu arbeiten. Der Alltag auf dem Hof war für mich als 12-Jähriger recht streng, Freizeit war knapp und nur am Abend blieb etwas Zeit für die Schulaufgaben. Hilfe von den Bauersleuten bekam ich keine. Die dreieinhalb Jahre Landleben in Attiswil näherten sich dem Ende. Mit dem Ende der Schulzeit stellte sich die Frage der Berufswahl. Hilfe bekam ich nur vom Lehrer. Aber der Wunschberuf Automechaniker blieb mir verwehrt, ebenso Elektriker. Dafür die Lehre als Metallbauer. Weil der der Lehrmeister mich erst ein halbes Jahr später, im Herbst, nehmen konnte, verfügte die Vormundschaftsbehörde eine neue 6-monatige Fremdplatzierung.

Erneut verdingt und ausgebeutet
Ich landete bei einem Bauer in Chez-le-Bart am Neuenburgersee. Der Chef gehbehindert, der Knecht in der strengsten Zeit im Sommer für 2 Monate im Knast. Die ganzen fünfeinhalb Monate lang hatte ich nie einen Rappen Sackgeld, dafür schuften von morgens 5 Uhr bis spät abends um 23 Uhr. Neben Viehwirtschaft und Ackerbau mussten auch noch neun Jucharten Reben gepflegt werden, was die Arbeit an den steilen Hängen nicht leichter machte. Zum Abschied erhielt ich den Fr. 250.-- Lohn total, Geld das der Chef doch schon von der Vormundschaftsbehörde erhalten und eingesteckt hatte.

Zurück zu den Pflegeltern
Im Herbst 1950 war es endlich soweit, als ich die Lehre als Metallbauschlosser begann. Zwar ein langer Arbeitsweg zu Fuss am Berg von 8 Km Länge und 28 Km Velofahrt täglich. Ich wurde fit und konnte dies bei meiner Ausbildung zum Schlosser bestens gebrauchen. Die Lehrabschlussprüfung im Frühjahr 1954 kam näher und ich wurde mit der Bestnote im ganzen Kanton Solothurn ausgezeichnet. 1963 durfte ich das Diplom als eidg.- dipl. Schlossermeister ausbilden. in Empfang nehmen. Nach weiteren Stellen machte ich mich 1985 selbständig.

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Foto:
KEYSTONE/Peter Klaunzer