Zeitzeugen

 
Hugo Zingg

Ich kam 1936 im Berner Mattequartier in einer Arbeiterfamilie zur Welt. Mein Vater war Mechaniker. Meine frühen Kinderjahre verbrachte ich bis kurz vor dem Schuleintritt in einem sogenannten Kinderheim in Kleindietwil im Oberaargau. Der Besitzer, ein Coiffeur, hatte mehrere fremde Kinder gegen ein Kostgeld in Pflege. Im Winter 1942/43 wurde ich auf einen Bauernhof mittlerer Grösse im Gürbetal verdingt. Die Pflegeeltern waren zwischen 45 und 55 Jahre alt. Hier wehte nun ein anderer Wind: ich wurde sofort für alle Arbeiten in Feld, Haushalt und Stall eingespannt. Immer wieder musste ich hören: „Du kannst froh sein, dass Du hier bei uns sein kannst“. Geschlafen habe ich im ungeheizten, finsteren Gaden zusammen mit dem jungen Knecht, der vor mir auch schon Verdingbub gewesen war. Die Matratze im gemeinsamen Bett bestand aus einer Strohfüllung in grobem Jutestoff. Die ganze Infrastruktur des Bauernhauses war alt, aber gut unterhalten. Im Wohnteil gab es die Küche mit Rauchfang, Wohn- und Schlafstube der Bauern, darüber zwei Gaden. Geheizt wurde mit Holz. Ich musste das Holz in die Küche schleppen, anfeuern, die Schweinetränke kochen, Geschirr waschen, die Böden putzen, die Teppiche ausklopfen. Auf dem Feld beim Grasen helfen, im Stall die Pferde, Kühe und Schweine füttern, misten, sowie mit der Milch in die Käserei fahren.

Mein Schulweg nahm im Winter je nach Schneemenge ½ bis ¾ Stunde in Anspruch. Im Sommer musste ich den Leuten auf dem Feld zuerst das Mittagessen bringen. Wegen der langen Wegzeit und der kurzen Schulmittagspause blieb für mich oft keine Zeit fürs Essen. Im Winter dasselbe Prozedere, wenn im Wald Holz geschlagen wurde. Bis zur Konfirmation hatte ich nie neue Kleider oder Schuhe. Ich musste alte in meistens zu kleinen Grössen austragen. Unterwäsche gab es auch nicht, man stopfte einfach das Hemd in die Hosen. Äusserst bedenklich finde ich, wie man dauernd ein Kind durch kaum endende Arbeit ausbeuten konnte. In meinen Augen ist dies ein Verbrechen. Die Entfaltung als eigene Person wurde konsequent abgewürgt. Nur mit den Tieren hatte ich eine gute Verbindung. Statt Rechte und Entwicklungsmöglichkeiten folgten Schläge und Schelte.

Nur auf dem Schulweg gab es Momente, wo ich etwas Freiheit genoss. In die Schule ging ich wegen den Lehrpersonen und, weil man in die Schule musste, das Lernen war zweitrangig. Eigene Skis erhielt ich durch den Lehrer von der Pro Juventute. Für die Bauersleute war diese Ausgabe für einen Verdingbuben unnütz. In der Oberschule bekamen wir einen jungen Lehrer, der mit uns viel Sport betrieb. Aber die Schulausflüge per Velo waren für mich tabu. Wegen der Arbeit auf dem Hof habe ich x Schulstunden versäumt. In meinem Zeugnis ist keine dieser Absenzen vermerkt. Die Lehrer wurden an Weihnachten immer mit reichlichen Gaben in Naturalien bestochen. Meine ganze Kindheit war eine immergleiche Tretmühle in einer irrealen, abgeschotteten Welt mit eigenen Gesetzen. So bekam ich an meinem Konfirmationsessen das ungeliebte Sauerkraut vorgesetzt. Die Bauersleute selber gingen auswärts fein essen.

Mit Vorliebe hat mich die Bäuerin mehrmals pro Woche mit einem Lederriemen gezüchtigt. Dazu kam auch, dass ich Bettnässer war. Jeder unliebsame Vorfall, jedes Missgeschick war in ihren Augen klar meine Schuld und führte zu Schlägen. Ab der 8. Klasse delegierte die Bäuerin die Strafen an den Bauern. Dieser simulierte die Prozedur mit mir im Tenn, er schlug auf irgend etwas und ich schrie. Die Bäuerin kam uns bei diesem Theater nie auf die Schliche, ergötzte sich aber an der Zurechtweisung. Sie war eigentlich psychisch krank. Dazu litt sie an Grössenwahn, terrorisierte den Mann, den Sohn und das Gesinde, bestach die Lehrerschaft, den Polizisten, befahl im Dorf und protzte mit den Hofgütern.

Durch den Suizid des jungen Knechts, der wie ich schamlos ausgebeutet worden war und deshalb in den Alkohol flüchtete, wurden die Amtsstellen gegen Ende meiner Schulzeit auf die Situation aufmerksam und nahmen mich von dort weg. Eines Tages musste ich allein mit dem Zug zur Berufsberatung nach Thun. Aus lauter Angst scheiterte ich bei den diversen Tests, weil ich zitterte. Einen Tag später schickte man mich zu einem Arzt, der meine Situation nicht kannte. Er schnallte auch nicht, dass ich völlig perplex und nichtsahnend war, als er mich aufklären wollte. Dann wurde über meinen Kopf hinweg entschieden, dass ich Spengler lernen sollte. Die Bäuerin macht dann noch Psychoterror, indem sie mir meine Zukunft in den schwärzesten Farben ausmalte, mir die Bettnässerei und mein bisheriges Verhalten vorhielt.

Ich kam zu einem Lehrmeister ins Seeland mit Kost und Logis im Betrieb. Dort wurde ich wieder ausgebeutet, indem ich keine Freizeit hatte und während den Ferien und Weihnachten zurück auf den Hof musste, wo ich willkommen war, um Fronarbeit beim Käsereiumgestaltung zu leisten. Da ich keine Zeit zum Lernen für die Gewerbeschule hatte, kam eines Tages ein Mann von der Lehrlingskommission zum Lehrmeister und beendete das Lehrverhältnis. Nun wurde ich für mehrere Monate in das Bächtelenheim in Wabern gebracht. Dort arbeitete ich in der Schreinerei, der Gärtnerei und dem Bauernbetrieb. Der Direktor war ein Grossenkel Albert Ankers und mit mir sehr anständig, sah aber ein, dass ich bei ihm am falschen Ort war. Die nächste Station war La Neuveville. Für ein Jahr arbeitete ich dort als Ausläufer beim Milchhändler und wurde wiederum ausgebeutet. Statt wie meine Kollegen am Nachmittag frei zu haben, musste ich im Gemüsebetrieb des Sohnes aushelfen. Aber zum ersten Mal hatte ich am Abend frei.

Mit 19 Jahren versprach man mir, dass ich im April die Landwirtschaftsschule in Courtemelon beginnen könne. Mit Beginn der Winterschule aber eröffnete man mir, weil ich im Januar in die Rekrutenschule einrücken müsse, klappe es mit der Fortführung der Schule nicht und offerierte mir für die verbleibenden Monate die Verantwortung für den Schweinestall. Wieder war ich beschissen worden. Immerhin aber lernte ich die französische Sprache. Zur Vorbereitung auf die Rekrutenschule hatte ich heimlich einen Morsekurs besucht und den Ausweis erhalten. Nun wurde ich bei der Aushebung als Funker bei der Übermittlung im Fliegerfunk eingeteilt. Nach der RS vermittelte mir der Schulkommandant die privilegierte Stelle als persönlicher Assistent des Testpiloten in Dübendorf. Der Eintrag über die Bevormundung im Dienstbüchlein kostete mich aber kurze Zeit später diese Stelle. Und auch später haben mir die Bevormundung und Verdingung immer wieder Einschränkungen, Verdächtigungen und Stellen gekostet. Bis ich es einmal schnallte und in meinen Bewerbungsschreiben, beziehungsweise Lebensläufen die belastete Vorgeschichte ausliess. Vorher war ich lange Zeit naiv, unerfahren.

Von 1970 an aber ging es plötzlich aufwärts. Erst relativ spät wusste ich nun, zwischen Sein und Schein zu unterscheiden. Meine Vergangenheit spielte im Berufsleben keine Rolle mehr. Dank meinen Hobbies konnte ich mich nun selber entfalten und eine andere Welt kennenlernen. Durch die intensive Beschäftigung mit Ton-, Film- und Videoaufnahmen fand ich einen eigenen Ausdruck, lernte viele neue, zum Teil prominente Leute kennen und wurde durch die zahlreichen Portraits kompetent.

Interview vom 19.7.2011. aufgezeichnet durch Walter Zwahlen

«Ich habe diesen Horror selber erlebt»
Der Blick, 12.10.2011

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Foto:
KEYSTONE/Peter Klaunzer