Zeitzeugen

 
Kurt Gäggeler

Ich wurde am 3. November 1951 in Bern geboren. Das erste Lebensjahr in Bern verlief fast normal bis auf einen Trümmerbruch der Nase im Laufgitter der ohne ärztliche Abklärung blieb. Der Vater arbeitete beim Bauamt der Stadt Bern und war jeweils den ganzen Tag abwesend. Die Mutter hatte scheinbar kein grosses Bedürfnis, zu mir zu schauen, so ging ich, sobald ich gehen konnte im Haus „klingeln“ und lud mich jeweils selber zum Essen ein. Ich habe eine 1 ½ Jahre jüngere Schwester. An Erlebnisse mit ihr in Bern erinnere ich mich nicht mehr. 1955 im Frühling dann der Wegzug von Bern für mich zu Bekannten aus der Jugendzeit meines Vaters (eine Pflegefamilie, aber verdingt wie alle andern), Kleinbauern in der Gemeinde Schwarzenburg. Die Schwester wurde von einer Tante – Schwester des Vater -aufgenommen und direkt adoptiert. Mit ihr hatte ich während der der ganzen Jugendzeit ca. 15 Kontakte.

Einmal pro Jahr kam das Fräulein von der Amtsvormundschaft in Bern, sie war die Vorzimmerdame meines Vormundes von Amtes wegen, um zu schauen ob der Bub ein Bett, genügend zu essen habe, sowie die schulischen Leistungen zu kontrollieren. Der Vormund selber konnte sich nicht darum kümmern – kein Wunder bei gegen tausend Mündel!!!, das was er pedantisch und akribisch überwachte war der Geldfluss.

Nun zwei drei Schlüsselerlebnisse von 1955 bis 1967. Damit die übrigen Schüler nicht vor den Kopf gestossen würden, hiess ich in der Primarschule Kurt Müller – also den Nachnamen der Pflegefamilie; dann kam der Übertritt in die Sekundarschule und der damalige Gemeindeschreiber von der Geimeinde Wahler – ein äusserst „korrekter“ und gläubiger Mann – befand, dass ich nun adoptiert werden oder aber den rechtmässigen Nachnamen Gäggeler tragen müsse; ich entschied mich für letzteres, da sagte er mir vor den Pflegeeltern, dass ich das nicht zu entscheiden hätte, ich verliess die Küche mit der Bemerkung dass ich sehr wohl wisse wo die Schwarzwasserbrücke sei. Leider habe ich die amtliche Mitteilung, die er meinem Vormund von dieser Episode gesandt hat, nie auftreiben können. In der achten Klasse begannen die Diskussionen was ich für einen Beruf erlernen möchte resp. sollte. Mein Wunsch war Koch, der Vormund befahl KV, wenigstens konnte ich mich bei den verschiedenen Lehrstellen für die eigene Wahl des Ortes durchsetzen. Als Landei im wahrsten Sinne des Wortes kam ich nun in die grosse Stadt Bern - während meiner Schulzeit war ich etwa dreimal da – immer in Begleitung. Für mich war diese Freiheit fast zu gross und es geschahen Dinge die sogenannt normalen jungen Menschen nicht passiert wären, nicht zuletzt, weil diese von Natur aus
vielmehr über das „Leben“ wussten. Nun ich habe diese relativ wilden und ereignisreichen Jahre eigentlich schadlos überlebt und bin nach der Lehre mit Freunden in die RS nach Kloten eingerückt. Als Novemberkind wurde ich erst nach der RS 20 und damit mündig.

1966 war mein leiblicher Vater nach längerer Leidenszeit mit 55 Jahren gestorben. Für mich trotz den wenigen Kontakten ein herber Verlust. Nun wurde ich ein letztes Mal von meinem Vormund aufgeboten, er gab mir ein Sparbuch mit dem Saldo CHF 8.70 und teilte mir unter anderem mit, dass ich mütterlicherseits noch eine Halbschwester hätte, die jedoch von mir nichts wissen wolle. Ich nahm das so zur Kenntnis und wandte mich weiter dem Leben zu, das mir Freude bereitete. Ich lerne meine zukünftige Frau kennen, mit 22 Jahre wurde geheiratet – die Ehe hielt bis hierher und darauf bin ich stolz, weil ich wusste was es bedeutet ein Scheidungskind zu sein! Es begann nun ein Berufs- und Familienleben mit dem stetigen Wunsch, mich zu verbessern und wie man so salopp sagt, empor zu arbeiten. Geprägt von meiner Jugendzeit war ich stets offen und direkt, was der Karriere nicht immer förderlich war. Ich bin aber soweit zufrieden, und freute mich bis zuletzt, am Morgen in den Spiegel zu schauen.

Als ich 60 Jahre alt war, interessierte ich mich immer mehr über Details zu meinen Wurzeln und ich begann zu suchen – eine zermürbende Arbeit mit vielen „Tiefschlägen“ – musste ich doch zur Kenntnis nehmen, dass verschiedene Leute mir als „Verdingbub“ übel mitgespielt hatten; ein paar Beispiele seien hier erwähnt:
Die „Adoptionszene“ – die Berufswahl – der Geldklau mein Vater hatte mir eigentlich um die 16000 Franken vererbt – im Protokoll zum Antritt der KV Lehre steht, er ist bleich und schwächlich obwohl ich regelmässig geschwungen und bäuerliche Arbeiten ausgeführt habe – die Lüge, dass die Halbschwester nichts von mir wissen wolle, wurde beim Tod der leiblichen Mutter auch entlarvt – eigentlich ist das Ganze eine unendliche Geschichte, die für Aussenstehende unverständlich ist, was die Gesellschaft von solchen Ereignissen hält, konnte man spätestens bei der Wiedergutmachungsinitiative lesen und hören.

Trotz allem ist mein Groll sehr klein geworden – dafür setzte ich viel von meiner Kraft seit der Pension ein, dass diese üble Geschichte endlich sauber aufgearbeitet wird, ein Zeitdokument dazu erstellt wird, analog dem „Berchier Bericht“ und was noch wichtiger ist, dass diese Willkür und zum Teil absichtliche Verunglimpfungen eingedämmt werden. Mit meinen Pflegeeltern hat sich meine Familie immer gut verstanden – der Pflegevater starb 1995 die Pflegemutter 2015. Sie waren unseren Söhnen echt gute Grosseltern.

Fazit:
Die ersten drei Jahre waren irgendwie doch sehr prägend für meinen Charakter, dazu die wüste Szene mit dem Gemeindeschreiber betreffs Adoption; für mich gab es lange Jahre nur schwarz/weiss oder anders gesagt gut/böse – richtig/falsch. Das machte mein Leben nicht einfacher erst mit etwa 60 Jahren wurde ich in immer zunehmenden Masse „konsensfähig“. Mein grösster Erfolg ist und war, dass meine liebe Frau und ich es schafften, dass trotz zum Teil grossen „Brocken“ auch finanziell, die Familie nie auseinanderfiel.

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Foto:
KEYSTONE/Peter Klaunzer