Zeitzeugen

 
Rita Soltermann

Ich kam am 31.Dezember 1938 in Burgdorf zur Welt. Meine Mutter war Hausfrau, mein Vater arbeitete als Pflästerer, er war in der Stadt Burgdorf angestellt. Leider war diese Arbeit, welche sicher sehr hart war, seiner Gesundheit nicht förderlich, denn er war sehr oft krank im Spital, so dass er am 28.Februar 1943 im Alter von 34 Jahren im Inselspital Bern starb. Ich war die Zweitälteste von 4 Kindern, mein Bruder hat Jahrgang 1937, ich 1938, die Schwestern Käthi 1940 und Doris 1941. Wir bekamen alle einen Beistand. Durch die Krankheit meines Vaters wurden wir laut den Akten damals schon längere Zeit von der Fürsorge unterstützt. Obwohl nicht unsere Schuld, war das schon der erste Stempel in unserem Leben. Unsere Mutter heiratete bald darauf schon wieder und im Mai 1944 kam unsere erste Halbschwester auf die Welt, drei weitere Kinder folgten.

Unser Stiefvater kam mit uns Kindern aus erster Ehe nicht zurecht. Er mochte uns auch nicht und so verlangte er von der Vormundschaftsbehörde eine Fremdplatzierung für uns vier. Dies erfolgte dann auch prompt im Jahr. Für mich war es der 12.Oktober 1944. Weil wir 4 Kinder an verschiedene Plätze verschachert worden waren, sahen wir uns höchstens 2-3 Mal während unserer Schulzeit. Meine jüngste Schwester sah ich erst mit 68 Jahren zum ersten Mal. Sie wusste nicht einmal, dass sie noch 3 Geschwister hatte und auch wir genau gleich wie sie verdingt waren.

Ich war die Jüngste von insgesamt total 14 Verdingkind im Laufe der Jahre an diesem Pflegeplatz. Diese Kleinbauern in emmentalischen Gohl hatten keine eigenen Kinder, und ohne die vielen Verdingkinder währe die Arbeit an den steilen Hängen gar nicht zu bewältigen gewesen. Wir ersetzten die benötigten Mägde und Knechte und mussten wirklich hart schuften. Die Bauernfamilie erhielt von den Vormundschaftsbehörden noch die Kostgelder. Für mich 360.-Franken pro Jahr. Eine wichtige Form der Subvention damals. Es hatte bei diesem Hof kein fliessend Wasser in der Küche und keine Elektrizität im Hause. Beim kleinsten Vergehen bekamen wir eine Ohrfeige von der Pflegemutter, oder man musste im Stall die Hosen runterlassen, und dann kam der Teppichklopfer zum Einsatz auf den nackten Hintern. Auch mussten wir zu zweit in einem normalbreiten Bett schlafen. Ich war Bettnässerin bis in die 5.Klasse, wie alle meine Geschwister. Das Zimmer ungeheizt mit Eisblumen an den Fenstern im Winter. Zu Essen hatten wir einfach, aber immerhin genug. Für Schulaufgaben gab es nur am Sonntag Zeit.

Von Montag bis Samstag hiess es streng arbeiten. Vor der Schule Hühner und Schweine füttern und misten. Dann ungewaschen stinkend zur Schule, von einigen Mitschülern deswegen geplagt und gehänselt. Nur ein einziger Lehrer war unparteisch. Da wir keine Würste und sonstige Leckerbissen mitbringen konnten, wurden die Bauernkinder bevorzugt. Die Kleider mussten wir von den älteren austragen. Einzig für das Examen gab es neue. Gross genug gewählt, dass sie auch am nächsten Examen noch passten. Den Beistand, welcher alle 2 Jahre die Berichte über mich schrieb, habe ich selber nie gesehen. Wohl kam immer ein Herr Stucker alle paar Jahre vorbei. Ich musste die Zeugnisse zeigen und den Kleiderschrank öffnen. Für Ihn gab es ein gutes Zvieri. Die zweijährige Aktennotiz enthielt immer den selben Wortlaut; es hiess, sie ist ein braves Kind, wird zur Arbeit angehalten, die Pflegeeltern erfüllen die Ihnen auferlegte Pflicht, ihr Schulbericht kann bis gut taxiert werden, könnte besser sein. Da ich zu klein und schmächtig war und einen steilen und langen Schulweg hatte, konnte ich erst mit bald 8 Jahren zur Schule und beendete erst mit sechzehneinhalb die Schulpflicht.

Ich wollte Coiffeuse werden, aber hätte von der Gohl nach Waldstatt im Appenzellischen gehen müssen, wo meine Mutter und mein Stiefvater mit Familie seit Jahren wohnten, und von dort täglich nach St.Gallen in die Lehre fahren. Bereits als Kleinkinder wurden wir verschachert. Jetzt als halb Erwachsene sollte ich wieder zurück, wer sollte das verstehen? Hauptsache war wieder, ich blieb für die Verantwortlichen versorgt und ihr Problem gelöst! Mit unseren Stiefgeschwistern haben wir alle ein sehr gutes Verhältnis. Als einzige Alternative blieb nur das Haushaltlehrjahr für 15.- Franken Lohn im Monat. Das hiess von morgens um 6 Uhr früh bis Abends um sieben oder noch länger bei einem Pfarrer schuften. Seine Frau war teilweise berufstätig und geizig, er aber war nett. Sie hatten kleine Kinder und ich hatte Freude, sie zu betreuen, das Arbeiten war ich gewöhnt, und dort es hat mir gefallen. Nachher war ich noch ein Jahr bei einem Arzt am selben Ort im Haushalt. Später in einem Büro als Hilfskraft. Das Thema Berufslehre war definitiv vom Tisch, und ich musste mich ohne irgend eine Hilfe selber durchbringen.

Mit 19 Jahren wurde ich schwanger. Sofort schaltete sich die Vormundschaftsbehörde wieder ein. Man bearbeitete mich, das Kind wegzugeben, da es doch nur eine Last sei für ein 19-jähriges Mädchen. Es gebe so viele Adoptiveltern, die sich ein Kind wünschten, und das Kind hätte dann eine sichere Zukunft. Sicher besser als bei mir, da ich sowieso zuwenig verdiene. Aber ich habe mich mit Händen und Füssen dagegen gewehrt. Ich kenne inzwischen Frauen, welche nicht dieselbe Kraft hatten, sich zu wehren, und ein Leben lang darunter leiden mussten, weil sie nicht wussten, wo Ihr Kind geblieben war. Die minderjährigen, ledigen Mädchen zu erpressen, war Usus und kam die Behörden ja viel billiger zu stehen. Damals war es noch eine Schande als ledige Mutter ein uneheliches Kind zu bekommen. Bei einem Besuch in Langnau habe ich meinen früheren Freund wieder getroffen und wir haben uns verliebt. Wir heirateten und sind heute noch glücklich zusammen. Unsere vier Kinder sind erwachsen und haben uns acht Enkelkinder und zwei Urenkel geschenkt. Wir haben ein schönes und liebevolles Verhältnis und sind oft alle zusammen. Wir leben im eigenen Haus welches wir uns selber hart erarbeitet haben. Doch die gestohlene Kindheit bleibt in meiner Erinnerung präsent bis ans Lebensende.

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Foto:
KEYSTONE/Peter Klaunzer