Geschichte

Verdingt und geknechtet

„Es war wie an einem Markttag, man ging herum, betrachtete die Kinder von oben bis unten, die weinend oder verblüfft dastanden, betrachtete ihre Bündelchen und öffnete sie wohl auch und betastete die Kleidchen Stück für Stück, fragte nach, pries an, gerade wie an einem Markt.“
aus Jeremias Gotthelf, „Der Bauernspiegel“

Die Kinder wurden am Dinget unter den Bauern versteigert – aber nicht an den Meistbietenden, sondern an jenen, der am wenigsten bot. Die Heimatgemeinde des Verdingkindes musste dem Bauern, der das Kind aufnahm, ein Kostgeld bezahlen. Arme Landgemeinden standen finanziell unter Druck. Die hohen Geburtenraten und die Pflicht der Gemeinden, für auswärts Verarmte aufzukommen, schlug zu Buche. So wollten die Gemeinden für Verdingkinder möglichst wenig bezahlen. Der mindestbietende Bauer, der sehr wenig Kostgeld bekam, wollte die Arbeitskraft möglichst intensiv einsetzen, um trotzdem auf die Rechnung zu kommen.

Mindeststeigerungen wurden im Kanton Bern mit dem Armengesetz von 1847 ausdrücklich verboten. Doch noch in den 1920er Jahren heisst es im Tagblatt des Berner Grossen Rates, dass es immer noch Gemeinden gebe, die Bettlergemeinden „nach altem Brauch“ durchführten.

Die Fremdplatzierumg von Kindern blieb allerdings gang und gäbe. Sie wurden als „Verding-“, „Kost-“, „Güter-“, „Hof-“, „Rast-“, „Hüter-“ oder „Loskinder“ von privater oder behördlicher Seite bei Pflegefamilien mit oder ohne Entschädigung zur Ernährung, Pflege und Erziehung untergebracht. Ihre Pflege mussten sie durch die eigene Arbeit verdienen.

Scham und Arbeit

Im 17. und 18. Jahrhundert beschränkte sich die Armenpflege auf die Anwendung von Polizeigewalt gegen das Bettler- und Vagantentum. Im 19. Jahrhundert war die Stigmatisierung der Armut ein beabsichtigtes Mittel der Armenpolitik. Jedermann sollte sehen und wissen, wer arm war. Verdingkinder trugen deshalb „mindere“ Kleidung. Wer arm war, hatte sich dessen zu schämen.

Die Auffassung, dass Armut erblich sei, war gang und gäbe, auch bei den Behörden. Gleichzeitig erkannte man aber auch, dass Bildung den Kindern der Armen eine Chance gibt. Dennoch: die wirtschaftlichen Nöte der Landvbevölkerung vereitelten lange die Einhaltung der allgemeinen Schulpflicht. Zur Schule ging man nur im Winter. Arme und verdingte Kinder wurden oft überhaupt nicht zur Schule geschickt, dafür umso mehr zur Arbeit angehalten. Hüten und Heuen, Misten und Mähen wie die erwachsenen Knechte und Mägde. Die Arbeit auf dem Hof bestimmte den Kinderalltag. Die Berufsperspektiven waren dementsprechend beschränkt. Viele Verdingkinder blieben Knechte oder Mägde. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts setzte sich die allgemeine Schulpflicht durch.

Fremdbestimmt

Die unzähligen, ehemaligen Verding- und Heimkinder waren jahrelang fremdbestimmt, dazu meist noch ohne Schutz-, Fürsprache, Zuflucht und Liebe. Sie alle wurden von Amts wegen versorgt, meist im einfältigen Glauben, das wäre das Beste für sie. Absurd, weil dem Kindswohl entgegengesetzt. Disziplin, Strenge und Zucht waren die Losung der damaligen Gesellschaft. Das Lebensbedingungen der Verdingkinder waren eigentlich vergleichbar einer Strafanstalt für Erwachsene, wobei die Straftäter aber rechtskräftig verurteilt und für eine Straftat büssen mussten, die sie begangen hatten. Die Behörden versorgten oft unbesehen. Wesentliche, kindliche Bedürfnisse wurden ignoriert, so vor allem die unverzichtbaren Bedürfnisse nach einer liebenden Bezugsperson, nach Wärme, Geborgenheit, Verständnis, nach einem wirklichen Heim und Nest. Man brachte sie so über Jahrzehnte um ein Stück Heimat. Dazu kam die ständige Stigmatisierung durch Armut, durch die „zweifelhafte“ Herkunft, die „unbotmässigen“ Eltern, etc., etc. Durch die fehlende Aufsicht der Behörden erlaubten sich die „Pflegeeltern“ Knechtschaft, Gewalt, Einsperren, Essensentzug, Kinderarbeit und Demütigung.
Besonders schlimm müssen sexuelle Uebergriffe gewesen sein, weil hier auch der Schutz des Intimen missachtet wurde. Nur die persönliche Bedürnisbefriedigung zählte, dabei war das schwächste Glied in der Kette, das Verding- oder Heimkind das Opfer. Gerade in Fällen von Gewalt und Schändung wären Vormund und Behörden verpflichtet gewesen einzuschreiten, taten es aber nur äusserst selten.
Dazu haben nur wenige erst später es zufällig aus ihren Akten erfahren, dass das Vergehen belangt worden war. Dabei hätten die Vormünder die Mündel unbedingt vor Übergriffen schützen, warnen, informieren und über das Vorgefallene, den eindeutigen Strafbestand, aufklären und Anzeige erheben müssen.

Gedichte

Gäng z' Glych – dr Verdingbueb

gäng hü jufle
chrampfe für zwegäng stichle
stürme
strytte
gäng aus nume gäge mi

gäng chläpfe
struble
stüpfe
gäng nume mi

gäng chlage
chifle
chlöne
gäng nume sie

gäng bätte
gytte
hüchle
gäng nie gnue
gäng fäut dises
fäut äis
bisch fürig
tschued bi gäng i

gäng bisch es
hesch es
büessisch's
gäng sousch niemer sy
gäng z'Glych

Walter Zwahlen © 12.06.2003

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Eine Wunde von Worten geschlagen ist schlimmer als eine Wunde, die das Schwert schlägt.

Verdingkind Adolf Wölfli 1864-1930
Adolf Wölfli wird am 29. Februar 1864 in Bowil im Emmental geboren. Er wächst in sehr ärmlichen Verhältnissen auf. Um 1870 verlässt der Vater die Familie. Wölfli und seine Mutter verarmen und werden darauf in die Heimatgemeinde Schangnau zwangsumgesiedelt. Dort werden Mutter und Kind getrennt und bei verschiedenen Bauern als Arbeitskräfte untergebracht. 1874 stirbt Wölflis Mutter. Ihr Tod wird ihm erst drei Wochen nach dem Dahinscheiden eröffnet. Fortan wächst er unter entwürdigenden Lebensbedingungen asl Waise und Verdingbub bei verschiedenen Bauernfamilien in Schangnau auf. Von 1880-1890 arbeitet Adolf Wölfli als Knecht, Handlanger und Wanderarbeiter, er teilt so das Los vieler ehemaliger Verdingkinder, die nie gefördert, ermutigt und für eine Berufslehre in Betracht kamen.