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Die verlorenen Welten
Immer weniger Menschen haben noch den Bezug zur Lebensweise ihrer Urgrosseltern und der Generationen davor. Der grosse Wegzug vom Leben auf dem Land in die Stadt hat längst schon stattgefunden. Damit ging auch viel Wissen und Erfahrung verloren. Kinder zeigen meist wenig Interesse am Früher ihrer Eltern oder den Generationen davor, eher sind die Enkel oder Urenkel wissbegieriger. Einen so langen Zeitraum überblicken können vielfach nur noch die entsprechenden Forscher oder Leseratten. Arthur E. Imhof hat stellvertretend für andere Regionen und Nationen ausgesuchte Landkreise, Dörfer und Sippen in Deutschland seit dem 16. Jahrhundert untersucht und Verlorenes zutage gebracht.
Arthur E. Imhof geht in seiner detailreichen Recherche einzelnen Familien, ihrem Umfeld und ihrem Leben über mehrere Jahrhunderte nach. Mehrheitlich „kleine Leute“ auf dem Land, welche durch Krankheit, Tod und Hunger als die vorherrschenden Lebensbedrohungen fertig werden mussten. Bis fast ins 18. Jahrhundert war hauptsächlich die Pest gefürchtet, weil sie oft ganze Landstriche leerfegte und verwüstete. Hunger gab es durch Klimaschwankungen wie Kälteperioden oder Dürre seit dem Jahr 1000 weltweit wiederholt. Und an Kriegen kam man nur durch viel Glück vorbei. Über zwei Jahrhunderte galt die Devise: „Verschone uns von Pest, Hunger und Krieg. Oh Gott!“
Zum Überlebenskampf gehörten die entsprechenden Strategien und meist ungemein viel Glück, damit es überhaupt irgendwie weiterging. Lang waren Säuglingssterblichkeit und Kindbettfieber eine Geissel, mit welcher die Eltern ganz unterschiedlich zurechtkamen. Aber Leben, Lebenslauf und Lebenserwartung hatten eine völlig andere Bedeutung, weil man mehrheitlich eingebunden war in eine Gemeinschaft. Gleichzeitig wusste man, dass die Möglichkeiten den verschienen Bedrohungen und Existenzgefährdungen zu begegnen, begrenzt waren. Aber man wehrte sich so, wie es eben ging. Dazu gehörten Stabilitäten wie die Regelung der Hofnachfolge, weit gespannte soziale und wirtschaftliche Netze, das Festhalten an bewährten Traditionen. Man war damals als Bürger noch eingebunden in einen überschaubaren kleineren oder grösseren Mikro- und Makrokosmos. Dieses Eingebundensein in etwas Umfassenderes ging seither weitgehend verloren.
Gleichzeitig war die Wirklichkeit damals auch brutal, wurden weder Frauen und Mütter noch Kinder geschont. Die Trauerzeiten für den verstorbenen Partner fielen manchmal nur kurz aus, weil unbedingt eine neue Partnerin für die verbliebenen Kinder vonnöten war. Dies eindeutig die Kehrseite der Medaille. Stiefmütter waren meist eher die Regel, statt die Ausnahme. Diese Studie verfügt über zahlreiche Grafiken, Tabellen und Bilder, welche die komplexe Geschichte verständlicher und fassbarer machen. Sie ist durchaus nicht ein Wehgesang auf die Vergangenheit, weil sie diese differenziert erfasst. Und dazu eine tiefgründige Sicht auf die eine Vergangenheit, die vielleicht nur vorübergehend vergangen ist. Auch wenn die Recherche sich auf Deutschland bezieht, spricht sie für ganz Europa.
Die verlorenen Welten – Alltagsbewältigung durch unsere Vorfahren – und weshalb wir uns heute so schwer damit tun...
von Arthur E. Imhof, Verlag C.H.Beck (Vergriffen, nur noch antiquarisch erhältlich)
Porträt:
Arthur Erwin Imhof (* 20. April 1939 in Naters, Kanton Wallis) ist ein Schweizer Historiker und Demograf. Er studierte Geschichte in Zürich, Brüssel, Paris und Rom. Nach der Promotion in Zürich 1965 wechselte er an die Justus-Liebig-Universität Giessen, wo er sich 1973. Er war bis zu seiner Emeritierung 2004 Professor für Geschichte der Neuzeit und Sozialgeschichte am Friedrich-Meinecke-Institut der FU Berlin. Von 1980 bis 1995 hatte er mehrfach Lehraufenthalte an brasilianischen Universitäten. Imhof ist Mitglied der Königlich-Norwegischen Akademie der Wissenschaften.
Text: Walter Zwahlen
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