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Das Schweigen brechen: Schreckensszenarien, die sich wiederholten

Diana Bach und Robert Minder

Nach Jahrzehnten des Schweigens und des Vertuschens sind in den letzten 10 Jahren vermehrt Biografien und Forschungsstudien im Buchhandel über die leidvolle behördliche Fremdplatzierung von Kindern und Erwachsenen erschienen. Darunter zahlreiche Einzelschicksale, die man lange in der Schweiz nicht für möglich oder unter Verschluss hielt. Das Ausmass der ausgeübten Gewalt ist schier unvorstellbar. Kinder, die jahrelang ihren Peinigern wehrlos ausgeliefert waren, nirgendwo Hilfe zu erwarten hatten, kaum vor Misshandlung geschützt waren, sich nicht zu wehren wussten und deren Rechte gleich null waren. Vormundschafts- und Sozialbehörden und die Mehrheit der Zivilbevölkerung schauten bei schlimmsten Menschenrechtsverletzungen weg. Einer Demokratie und eines Rechtsstaates unwürdig.

Kurzinhalt:

Diana Bach (*1948) und Robert Minder (*1949) verbringen lange Jahre ihrer Kindheit in einem religiös geführten privaten Kinderheim in Auwil SG. Sie erleben Gewalt und wachsen in einer von Kälte und Angst dominierten Welt auf. Nach über fünf Jahrzehnten treffen sie sich wieder. Diana, mittlerweile pensioniert, ist Lehrerin geworden, Robert arbeitet als Hauswart und lebt mit seiner Familie. Beide tragen die Verletzungen der Kindheit noch in sich. Sie beginnen sich zu schreiben, tauschen sich per Mail über ihr Leiden und ihre Strategien des Überlebens aus. Und sie beteiligen sich an der Diskussion um Wiedergutmachung. Lisbeth Herger zeichnete die Lebensgeschichten von Diana und Robert entlang der Quellen nach, bearbeitete ihren Briefwechsel und bettete ihn zeitgeschichtlich ein. So werden zwei Schicksale zu hörbaren Stimmen und eindrücklichen Porträts. Entstanden ist eine sehr persönliche und historisch fundierte Reflexion zur Aufarbeitung der unrühmlichen Praxis der administrativen Versorgungen. Ein beklemmendes Zeitzeugnis der Schweizer Sozialgeschichte.

Würdigung:
Diana Bach und Robert Minder gerieten in die Klauen einer völlig gestörten „Heimmutter“, welche unkontrolliert eine faschistoide Gewaltorgie gegenüber den anvertrauten Kindern beging. Dazu kam die vielfältige psychische Folter. Trotz Klagen wurde diesem Treiben vom Vormund nicht Einhalt geboten. Diana Bach und Robert Minder wurden deshalb in ihrer Existenz durch die erlittenen Traumata über Jahrzehnte extrem geschädigt. Dass sie erst jetzt sich jemand anvertrauten konnten, zu sprechen wagten zeigt das Ausmass des Horrorkabinetts und seiner langfristigen Folgen. Im frühen Erwachsenenleben auf sich geworfen, bemühten sie sich irgendwie Tritt zu fassen. Gründe für das wiederholte Scheitern im Erwachsenenleben sind die mehrjährige Isolation in einem solchen brutalen Straflager und die konsequente Verweigerung von Anerkennung, die ein Kind unbedingt braucht, damit es Vertrauen gewinnt, geistig und psychisch wachsen kann. Frau Lisbeth Herger hat dieses fast unentwirrbare Horrorkabinett erfolgreich zu Papier gebracht und der Nachwelt überliefert. Das Buch Lebenslänglich ist harte Kost. Für die nur zu oft selbstgefällige Schweiz ein wichtiges Korrektiv.

Fazit:
Die offizielle Schweiz sollte sich angesichts der vorerst nur zum Teil bewältigten eigenen Vergangenheit im internationalen Auftritt betreffend humanitärer Tradition unbedingt zurückhaltender gebärden, und sich vor allem nicht mehr damit brüsten. Gerade gegenüber Kindern und den diversen Kategorien von Verfemten, Unangepassten hat die offizielle Schweiz sogar über das Jahr 1981 hinaus in Einzelfällen weiterhin Dreck am Stecken. Denn die völlig aus dem Ruder gelaufene Sozialpolitik ist unentschuldbar. Man hätte durchaus anders agieren können, aber man wollte schlichtweg nicht. Besonders gravierend, dass Ignoranz und Fehlverhalten der Täter keine Konsequenzen hatten. Dass solche Vorgänge in einem Kinderheim, welches unter dem religiösen Deckmantel operierte, möglich waren und durch die Sozialbehörden nicht nur geduldet wurden, ist grotesk. Nie wurde wirklich ernsthaft kontrolliert. Man vertraute unbesehen menschenverachtenden und hassgesteuerten Individuen unbescholtene, schutzbedürftige Kinder an und ignorierte, dass sie über Jahre Gewaltexzessen ausgesetzt waren. Empathie blieb ein Fremdwort, fehlte sowohl im Vokabular wie in der Praxis. Dass gerade minderjährigen Mündeln per Gesetz in vielerlei Hinsicht ein besonderer Rechtsstatus zukam ging willentlich oder unbewusst vergessen.

Rezension: Walter Zwahlen

  Buchcover Lisbeth Herger

Lisbeth Herger
Lebenslänglich
Briefwechsel zweier Heimkinder
Verlag: hier+jetzt, 2018, 322 Seiten, 978-3-03919-454-4