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Barbara Lutz: «Keinen Seufzer wert»

Barbara Lutz

1860 kommt es in Signau zu einem Mordprozess und einer Verurteilung wegen Totschlags, der aktenkundig ist. Die öffentliche Hinrichtung der Täter 1861 zog viel Volk an. Die Autorin hat sich dieser in den Akten belegten Geschichte intensiv gewidmet und ein wertvolles Zeitbild verfasst, das die erbärmlichen Lebensbedingungen der armen Bevölkerung im 19.Jahrhundert deutlich macht.

Kurzinhalt:
Im Januar 1860 begibt sich der arme Jakob Wyssler auf die Suche nach einer Wohnung für seine schwangere Frau Verena und die drei Kinder. In seiner Not erbittet er bei Res Schlatter eine Unterkunft. Res gilt als mürrischer Geizkragen, mit dem niemand auskommt. Er hat schon seine drei Schwestern und seinen Vater aus dem Haus getrieben. Widerwillig stimmt Res, ein Vetter von Verena, zu und gibt Jakob Geld für den Kauf von zwei Ziegen mit. Aber erst Wochen später kommt Jakob mit seiner Familie auf dem Schafberg im Emmental an. Jedoch ohne die Ziegen, da er mit von Res erhaltenen Geld seine Schulden beglich. Obwohl die ganze Familie sichtbar hungrig ist, bietet ihnen Res in der vernachlässigten und verdreckten Stube nichts zu Essen an. Jakob Wyssler findet in der Folge weder bei der Eisenbahn noch als Schuhmacher eine Arbeitsstelle, und Res überlässt ihnen nur einen steinigen Acker für das Setzen der Saatkartoffeln, die Verena von ihrer Schwester Magdalena als Leihgabe erhalten hat. Trotz der Arbeiten, die Verena und Annelies, die älteste Tochter, für Res verrichten, wächst der Familie der Schuldenberg über den Kopf. Res hält Abmachungen nicht ein und entlohnt die Familie nicht ehrlich. Lebensmittel lässt er lieber verderben, als sie den Hungernden anzubieten. Ein Jahr später spricht Jakob mit Dorfbewohnern über das unmenschliche Verhalten von Res, und man ist sich einig, dass der geizige Alte eine Abreibung verdient hätte.

Schon im ersten Satz des Romans «Keinen Seufzer wert» von Barbara Lutz ist zu lesen, dass 1861 im Emmental vier Verbrecher hingerichtet wurden. Eine nicht näher benannte Person will von der Vollstreckung des Urteils durch einen Scharfrichter gehört haben und bevor die Autorin mit der eigentlichen Geschichte beginnt, heisst es: «Lasst also hören, wie sich das Unheil zugetragen hat.» Der Plot wird immer wieder durch kursiv gedruckte Textstellen unterbrochen, die den Verhörprotokollen des Untersuchungsrichters Ingold und der Anklageschrift des Bezirksprokurators entnommen wurden und dementsprechend in einer für uns heute befremdlich wirkenden Ausdrucksweise wiedergegeben werden.

Barbara Lutz macht mit ihrem historischen Roman die Armut von Familien in jener Zeit deutlich. Diese konnten dem Teufelskreis nicht entrinnen, wenn sie keine Arbeit fanden und sich niemand ihrer annahm. Um ihren Kindern wenigstens ab und zu etwas zu essen geben zu können, wurden sie zu Dieben oder Hehlern, die dann die gleiche Gesellschaft verstiess. Die Hoffnung von Verena, dass ihr Mann sie nach der Geburt des nächsten Kindes mit einundvierzig Jahren nicht weiterhin sexuell bedrängt, ist vor diesem Hintergrund nur verständlich. Denn der Familie fehlte natürlich auch Holz zum Heizen, so dass die Gefahr bestand, der Säugling könnte nachts erfrieren. Wären sich die Beteiligten nicht von Anfang an mit gegenseitigem Misstrauen begegnet, hätte sich die Situation nicht so dramatisch zugespitzt. Vieles hätte für beiderlei Nutzen in ernsthaften Gesprächen geklärt werden können. Die Armut, das Leid und die Hoffnungslosigkeit der Familie macht betroffen und hinterlässt beim Leser ein beklemmendes Gefühl. Dauernd argwöhnt Res Schlatter, bestohlen zu werden. Geredet wird kaum, und so steigen die Spannungen im Haus bis ins Unerträgliche. Es endet schliesslich im Totschlag und der öffentlichen Hinrichtung der Täter vor Tausenden von Zuschauern. «Keinen Seufzer wert» ist ein eindringliches Zeugnis über weltverachtenden Glauben, über Engherzigkeit, Selbstgerechtigkeit und nicht zuletzt über die Katastrophe der Sprachlosigkeit.

Text: Walter Zwahlen


Barbara Lutz: «Keinen Seufzer wert»,
Roman, 240 Seiten, ISBN: 978-3-85791-838-4