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350 Jahre Bürgerliches Waisenhaus Basel - Ein Grund zum Feiern?

350 Jahre Bürgerliches Waisenhaus Basel

Die Heimkampagne liegt fast 50 Jahre zurück. Was ist seither wirklich geschehen? Die Geschichte einiger, leider noch weniger Heime in diversen Kantonen wurde wissenschaftlich erforscht. Das Bürgerliche Waisenhaus Basel feiert dieses Jahr sein 350-jähriges Bestehen. Man plante eine Festschrift mit einer historisch-wissenschaftlichen Studie. Ein Unterfangen, das aus der Unvereinbarkeit der Ansprüche und der nach wie vor starken Befangenheit der massgebenden Involvierten leider scheitern musste. Zwei unabhängige Publikationen hätten der Sache mehr gedient. Die sorgfältigen, aufwendigen Aktenstudien der Experten und ihre Schlussfolgerungen wurden dadurch fragmentiert und geschmälert. Schade!

Kritik:
Die Studie enthält eine umfangreiche Recherche über die Geschichte der Basler Institution. Wie fast die meisten Jubiläumsschriften einer solchen Anstalt, wirken sich die vielerlei Verflechtungen der damaligen und aktuellen Amtsträger, des Staates und der Auftraggeber der Recherche leider auch bis heute auf das Ergebnis aus. In manchen Bereichen fehlt deshalb die kritische Distanz zu fragwürdigen Entwicklungen. Ist ein solches Jubiläum wirklich ein Grund zum Feiern und Schulterklopfen? Ein Grund die Vergangenheit zu schönen und doch mehrheitlich schönzureden? Kommen doch gerade in den diversen, wertvollen Biografien von Ehemaligen die auch aus anderen Quellen bekannten Missstände deutlich und wiederholt zu Wort. Diese Zeitzeugen zeigen klar eine andere Wirklichkeit, als die über Jahrhunderte schriftlich fixierte.

Kaum ein kritisches Wort fällt über den finanziellen Einbezug von Verwandten oder die Verdingung von Kindern ohne Aufsicht oder Kontrolle an Bauern. Die harte Bestrafung wegen geringfügigen, zum Teil kindgemässen Vergehen, wird leider als Zeitgeistphänomen durchgewunken. Besonders krass sind die Besuchsverbote an den Wochenenden von Vätern und Müttern (Kollektivstrafen). Absolut absurd ist die Auflistung von internen Regeln und Verboten aus dem Jahre 2010 in der Ausstellung, welche uns beim Besuch besonders negativ auffiel (moderne Sozialpädagogik?). Was in den meisten Studien, welche in den letzten 20 Jahren über Heime gemacht wurden, auffällt, ist, dass die kritische Auseinandersetzung mit der fast flächendeckenden kontraproduktiven Pädagogikpraxis weitgehend fehlt. Ein schweizerischer blinder Fleck und weitgehend unverdauter Brocken von verpassten Reformen?

Dabei wäre das vorurteilsfreie Angehen dieser Thematik ein längst fälliger Schritt zur Selbstreflexion. Dass während der Wirtschaftskrise in den 1930er Jahren die finanziellen Engpässe für die Behörden nur schwierig lösbar waren, haben wir heute durchaus Verständnis. Dass aber das Sparen über die Jahrhunderte immer auch die Schwächsten traf, ist mehr als ungerecht. Dahinter steckt auch das Bestreben von Bürgerschaft und Administration, möglichst billig davon zu kommen. Man sparte wie überall auf Kosten der Schwächsten. Hierin zeigt sich auch das verhängnisvolle Machtgefälle von Hierarchie und Standesunterschieden. Absolut unverzeihlich ist die weitgehend fehlende Kontrolle und Aufsicht auf allen Stufen im Heim. Darunter hatten wiederum die Zöglinge zu leiden. Die Interviewten legen zum Glück davon ein beredtes Zeugnis ab.

Ein Stück weit ist die Überforderung und Selbstüberschätzung von Heimleitern und Erziehern verständlich, aber Schritte, um diese zu beheben, wurden leider meist unterlassen. Eine seriöse Eignungsprüfung für die Tätigkeit auf den verantwortungsvollen Posten unterblieb ebenso. Und dass sexuelle Übergriffe ohne wirkliche Konsequenzen blieben, ist beschämend und zeigt eine schizophrene bürgerliche Klassenmoral. Unnötig lange bestand das bürgerliche Leitbild, mit Zwang und Drill als Leitmotiv. Ohne dass diese explizit angesprochen werden, zeigen sich zahlreiche blinde Flecken: Gewalt, sinnlose Strafen, die Bandbreite von Ungerechtigkeiten, Ignoranz gegenüber Klagen von Kindern stehen dabei im Vordergrund. Die Täterthematik ist fast ganz ausgeblendet.

C.A. Loosli, als der grosse Visionär und Kritiker der Fremdplatzierung des 20. Jahrhunderts mit seinen Hauptwerken Anstaltsleben und Administrativ-Justiz, war mit dem damaligen Waisenvater Hugo Bein, ebenfalls ein ehemaliger Heimzögling, in brieflichem Kontakt. Er lobte dessen Bestrebungen für das neue Familienmodell, übersah aber leider die oben angeführten diversen Mängel des Systems. Die gravierendste Unterlassung in der langen Heimgeschichte aber besteht in einem wirklich kindgemässen pädagogischen Konzept. Herausgehoben sind nur die Retuschen. Man schaute und schaut weiterhin immer noch lieber weg. Dabei ist gerade das jahrhundertelange Wegschauen die Krux. Die Zöglinge waren die Leidtragenden. Punkten und wirklich Vertrauen schaffen kann man heute nur noch durch schonungslose Offenheit! Dies hätte es auch hier gebraucht.

Walter Zwahlen


Zuhause auf Zeit 350 Jahre Bürgerliches Waisenhaus Basel, Autorenkollektiv, Christoph Merian Verlag, 2019