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Interview mit Hans Caprez

Hans Caprez

Hans Caprez war zuerst Lehrer im Vorderrheintal. Dann wurde er Journalist und arbeitete 30 Jahre lang beim Beobachter. Er brachte in mehreren Reportagen ab 1972 die üble Geschichte der Kindswegnahme bei den Jenischen durch das Hilfswerk „Kinder der Landstrasse“ der Pro Juventute aufs Tapet.

netzwerk-verdingt: Wie bist Du zum Journalismus gekommen? Und wie bist Du auf die Machenschaften der Pro Juventute im Hilfswerk „Kinder der Landstrasse“ gestossen?
Hans Caprez: Als Seminarist schrieb ich immer wieder für eine romanische Zeitung kleinere Berichte über Begebenheiten in Chur oder in meinem Heimatdorf. Später war ich Lehrer im Domleschg und nebenbei Korrespondent der damaligen Neuen Bündner Zeitung (heute die Südostschweiz). Als Redaktor am Beobachter war für mich ganz wichtig, jenen Leuten beizustehen, denen Unrecht geschah, und die sich kaum selbst wehren konnten. Das sprach sich bald herum. Und da mein Redaktionsbüro für alle Menschen jederzeit offen war, berichteten mir viele Leute über geschehenes Unrecht. Darunter auch eine jenische Frau, der man alle fünf Kinder weggenommen hatte. Das war der Ausgangspunkt für die Artikel über das rechtswidrige, rassistisch geprägte Vorgehen der Pro Juventute gegen die jenische Minderheit.

n-v: Dein erster Artikel führte bei den unkritischen Befürwortern der Pro Juventute zeitgeistbedingt zu 40’000 Abonnementskündigungen beim damals noch jungen Beobachter. Du hast bei diesem sehr gewagten Unternehmen persönlich wahrscheinlich alles riskiert?
H.C.: Nun, so jung war der Beobachter anfangs der siebziger Jahre auch wieder nicht. Die erste Nummer erschien nämlich schon im Januar 1927. Durch sein Einstehen für die Anliegen der sogenannten kleinen Leute und durch seinen Kampf gegen Unrecht und Behördenwillkür, genoss der Beobachter viel Vertrauen und hatte – als ich die ersten Artikel über die Verfolgung der Jenischen schrieb - über 400 000 Abonnenten. Damals wollten einfach viele Leute nicht wahr haben, dass die Pro Juventute mit Hilfe des Staates an einer solchen Aktion beteiligt war. Und so kam es zu sehr vielen Abo-Kündigungen, auch wenn es nicht 40 000 waren. Ich war damals jung, gut dreissig und ahnte nicht, welch riesiges Echo diese Artikel auslösen würden. In Bezug auf meine Stelle als Redaktor ging ich aber nie ein Risiko ein. Die Redaktion, die damals als Kollektiv arbeitete, stand immer voll hinter mir. Der Verleger bat mich in sein Büro und sagte: „Herr Caprez, machen Sie sich keine Sorgen, das ziehen wir durch, auch wenn es viel kosten sollte.“

n-v: Der Beobachter war damals neben der Nationalzeitung das einzige Printmedium, welches einen kritischen Journalismus pflegte. Woher nahmst Du persönlich den Mut, Dich so zu exponieren und über Jahrzehnte in heiklen Dossiers zu engagieren?
H.C.: Die Nationalzeitung war – nebst der kleinen Basler Arbeiterzeitung – das einzige Blatt von nationaler Bedeutung, welches dieses Thema in kritischem Sinne aufgriff. Radio und Fernsehen schwiegen, die NZZ stellte sich auf Seiten der Pro Juventute und schrieb einen grossen Artikel unter dem Titel „ die Diffamierung einer Institution“. Persönlich bin ich im Übrigen nicht besonders mutig. Was mich aber immer schon gestört hat, sind Ungerechtigkeiten. Solche aufzudecken, gehörte ja zum Kerngeschäft der Beobachter-Redaktion. Ich wurde dabei von der Redaktion und vom Verleger stets unterstützt. Auch andere Redaktionsmitglieder haben sich immer wieder mit brisanten Artikeln zu Wort gemeldet. Was die Verdingkinder betrifft, exponierte sich der Beobachter stark , wohl als erste Zeitschrift überhaupt. Der profilierte Journalist und Schriftsteller Carl Albert Loosli (1877 – 1955) – selber ein Betroffener - hat das Verdingkinder-Unwesen immer wieder angeprangert, auch als Mitarbeiter des Beobachters.

n-v: Eines Tages erhieltest Du einen Anruf des damaligen Generalsekretärs der Pro Juventute, der Dich in sein Büro bat. Dir dort die gesammelten Akten im Archiv zeigte und die Richtigkeit Deiner Recherchen bestätigte. War das ein Schlüsselerlebnis für Dich?
H.C.: Das war für mich tatsächlich ein Schlüsselerlebnis und zugleich eine grosse Genugtuung. Vor der Publikation der ersten Artikel hatte ich mich ja vollständig auf die Aussagen der betroffenen Mütter und einiger Zeugen verlassen müssen. Pro Juventute, die von mir befragt worden war, verwies auf Gerichtsurteile, bis hin zum Bundesgericht, die das Vorgehen als rechtmässig beurteilten. Mein Instinkt sagte mir, “Soll ich Gerichten eher glauben als den betroffenen Müttern“? Ich entschied mich für die entrechteten Mütter. Die Akten und spätere wissenschaftliche Untersuchungen zeigten, dass die systematische Verfolgung der Jenischen in noch viel grösserem Ausmass stattgefunden hatte, als ich am Anfang annahm. Leider gibt es immer noch Kräfte, die dieses Thema am liebsten verschweigen würden. Sonst hätte die Leidensgeschichte der Jenischen – übrigens auch die der Verdingkinder- längst in den Schulbüchern erwähnt werden müssen.

Interview: Walter Zwahlen

Kurzbiografie:
Hans Caprez, geb.1940 in Castrisch, Besuch des Lehrerseminars, einige Jahre Primarlehrer an der Gesamtschule Scheid, Redaktor der Neuen Bündner-Zeitung, Redaktor am Beobachter von 1971- 1998. Jetzt pensioniert und in Castrisch wohnhaft.

Bücher zum Thema:

Von Menschen und Akten
Von Menschen und Akten - Die Aktion Kinder der Landstrasse
, Sara Galle, Thomas Meier, Chronos Verlag, 2009
Die Stiftung Pro Juventute nahm zwischen 1928 und 1973 mit Hilfe der Behörden 586 Kinder aus fahrenden Familien ihren Eltern weg und brachte sie in Pflegefamilien, Heimen und Anstalten unter. Ziel der Aktion war, die nichtsesshafte Lebensweise zu beseitigen. Dies in der Schweiz beispiellose Diskriminierung einer Minderheit konnte erstmals anhand des umfangreichen Aktenmaterials dargestellt werden. Mit diesen Akten wurden Menschen bewertet, entwertet und deren Leben kanalisiert. Fünf Biografien zeigen beispielhaft die verwerfliche Praxis.

Fahrendes Volk – verfolgt und verfemt, Thomas Huonker, Limmat Verlag, 1987 (vergriffen)
Während Jahrhunderten sind die Fahrenden immer wieder verfolgt und diskriminiert worden. Noch bis 1967 finanzierte die Eidgenossenschaft die Pro Juventute, welche gezielt gegen die Jenischen Familien vorging und ihnen die Kinder wegnahm. Erst 1973 wurde das dafür verantwortliche „Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse“ endlich aufgelöst. Thomas Huonker beschreibt eindrücklich die systematische behördliche Verfolgungs- und Versorgungspraxis und lässt in elf ausführlichen Gesprächsprotokollen Fahrende und ihr Schicksal zu Wort kommen.

Roma, Sinti und Jenische
Roma, Sinti und Jenische, Thomas Huonker, Regula Lüdi, Chronos Verlag, 2001
Die historische Forschung hatte Roma, Sinti und Jenische als Opfergruppe der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik lange Zeit ignoriert; das trifft auch auf die Schweiz zu. Erstmals wurden nun die Hintergründe und Vorgänge beleuchtet, die zur grundsätzlich restriktiven Politik der Schweizer Behörden gegenüber Roma, Sinti und Jenischen während und nach dem Zweiten Weltkrieg geführt haben.