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Interview mit Christian Mehr

Christian Mehr

Die Jenischen waren den Behörden immer suspekt. Sie wurden deshalb diffamiert, verfolgt und diskriminiert. Keinen festen Wohnsitz zu haben, widersprach der bürgerlich dominierten Norm, und Nichtsesshafte wurden seit Jahrhunderten als Gefahr für die Gesellschaft angesehen. Christian Mehr ist eines der letzten und jüngsten Opfer des grausamen Projekts „Kinder der Landstrasse“ der Pro Juventute.

netzwerk-verdingt: Deine Mutter, Mariella Mehr, hat sich vor gut 30 Jahren vehement für die Sache derJenischen in der Schweiz engagiert. Was bewog sie dazu, sich persönlich für die Verbesserung der Lebensumstände der Jenischen einzusetzen?
Christian Mehr: Es war für sie immer prioritär, dass das Volk der Jenischen als Mitglied der Gesellschaft akzeptiert wird. Das gilt auch für mich.

n-v.: Du warst von der Kindswegnahme und Fremdplatzierung durch die Pro Juventute als Kind betroffen. Was hiess das konkret für Dich?
C.M.: Die Pro Juventute und die Schweiz haben mir meine Kindheit geraubt und mir das Recht verweigert, in der eigenen Familie aufwachsen zu dürfen. Unter diesem Stigma leide ich heute noch. Meine Vorfahren, die Familie „Mehr“ hatte schon von 1927 an nie eine Chance, eine eigene Familie zu haben. 1927 nahm man meine Grossmutter als Erste weg, 1947 meine Mutter und 1965 mich. Obwohl ich schon längst die Verantwortung für mein Leben übernommen habe, fehlt mir diese wichtige Erfahrung.

n-v: 1975 wurde die Radgenossenschaft gegründet. Dem persönlichen Engagement Deiner Mutter, Mariella Mehr, und ihrer politische Arbeit ist es zu verdanken, dass nach langen Kämpfen die offizielle Entschuldigung durch Bundesrat Egli im Jahr 1987 zustande kam. Für die meisten Opfer des Hilfswerks der Kinder der Landstrasse gab es jedoch nur eine mickrige, finanzielle Entschädigung. Für die offizielle Schweiz schien damit die Sache erledigt. Das Ausmass des angerichteten Schadens und des unsäglichen Leids zählte kaum.
C.M.: Für mich persönlich ist klar, dass man diesen Irrsinn nicht mit Geld wiedergutmachen kann. Ich selber kam wegen der erzwungenen Fremdplatzierung physisch und psychisch extrem zu Schaden. Im Alter von 2 Jahren fiel ich durch die Nachlässigkeit/Unvorsichtigkeit der Pflegemutter in einen Waschzuber mit 70 Grad heissem Javelwasser und erlitt lebensgefährliche Verbrennungen zweiten und dritten Grades an über 50% der Hautoberfläche. Dies bedingte über Jahrzehnte Spitalaufenthalte. Die genaue Unfallursache und Haftung wurden jedoch nie seriös abgeklärt. Auch bei den erlittenen psychischen Schäden wurde weggeschaut. Daher gibt es nur Eines: immer wieder darüber sprechen, sonst wird das grässliche Geschehen und das Wissen darüber innert kurzer Zeit vergessen. So leicht dürfen die Täter aber nicht davonkommen.

n-v: Die Jenischen sind bis im April 2014 lange Jahre weitgehend aus den Schlagzeilen verschwunden. Eure Arbeit aber ist nicht zu Ende. Wofür kämpft Ihr heute und oder immer noch?
C.M.: Leider war die Kampagne der Pro Juventute mit dem Hilfswerk der Landstrasse, für welche die offizielle Schweiz mitverantwortlich ist, bis heute „erfolgreich“. Man hat dadurch die Gemeinschaft der Jenischen in ihrem Kern getroffen. Die Kindwegnahmen und die Stigmatisierung der gesamten Volksgruppe schwächte die Ethnie als Ganzes massiv. Dazu kommt die Illusion des Staates, mit der Entschuldigung sei der Sache Genüge getan. Nach dem Motto: “Was wollt Ihr noch?“ Das Engagement von mir und meiner Mutter, sowie weiteren Jenischen wird deshalb nicht eben geschätzt. Dabei sind zahlreiche früher gemachte Versprechen bis heute weitgehend nicht umgesetzt worden, wie zum Beispiel die Schaffung von Standplätzen.

Interview: Walter Zwahlen

Christian Mehr
Kurzbiografie:

Christian Mehr, 1966*, wurde bevormundet und kurze Zeit nach der Geburt von der Pro Juventute bei einer Pflegefamilie in Hindelbank platziert. 1968 „Unfall“ mit schwersten Verbrennungen, mit 3 1/2 Jahren zurück zur ersten Pflegefamilie. 1971-1973 Kinderheim Sardasca in Klosters (Vormund wird Clara Reust von der Pro Juventute!). Danach kurze Rückkehr zu Mutter, mehrere Spitalaufenthalte, Jugendpsychiatrie, von 1975-1982 im Kinderheim Schlössli in Ins, wo Gewalt und Psychoterror herrschten, ich rebellierte, begeisterte mich für Punkrock und wurde dort rausgeschmissen, Schulabschluss in einer Privatschule. Seit meinem 18. Lebensjahr ist die Musik mein Lebensretter, bis heute. Mit 32 studierte ich und machte eine IT-Netzwerk- und Webpublishing-Ausbildung. Mit 33 Jahren bedingten die in der Kindheit erlittenen schweren Verbrennungen eine IV-Rente. Seit sechs Jahren engagiere ich mich im Kafi Klick in Zürich, meine Fähigkeiten sind dort gefragt, meine Behinderung wird verstanden. Und ich engagiere mich weiter für die Menschenrechte der 18 Mio Roma in Europa, im Gedenken an meinen Vater. Auch da hat mir die Schweiz und die ProJuventute „dank“ dem Gesetz der Zigeunerfrage bis 1973 das Recht verwehrt, einen Vater präsent zu haben. Sie verwiesen ihn 1968 unter einem Vorwand des Landes aus und liessen ihn nicht mehr einreisen, weil er ein rumänischer Roma war. Er starb 1974 an Krebs und den psychischen Folgen der drei Jahre in den Nazi-Konzentrationslagern Dachau und Auschwitz während des Zweiten Weltkriegs.