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Die Duplessis Waisenkinder in Kanada

Bruno Roy

Zwischen 1940 und 1970 wurden Tausende von Waisenkindern durch die Regierung in der Provinz Québec fälschlicherweise als Geisteskranke deklariert und in Heime, sowie psychiatrische Kliniken eingewiesen. Es ist schlimmste und wichtigste Beispiel der Kindsmisshandlung in der kanadischen Geschichte. Das geschah während der Zeit als Maurice Duplessis Premierminister in Québec war. Die Kinder wurden den ledigen Müttern nach der Geburt weggenommen, in den Heimen geschlagen, sexuell missbraucht oder sogar getötet. Der Journalist und Schriftsteller Bruno Roy hat das Thema recherchiert und in seinem Roman "Les calepins de Julien" aufgegriffen.

Die Geschichte
Die Regierung arbeitete eng mit der römisch-katholischen Kirche zusammen, welche für sie die Waisenhäuser betrieb. Die Kirchenführung entwickelte eine Strategie, damit die Bundesmittel weiter flossen. So wurden Heime als Gesundheitszentren deklariert, obwohl die Zustände in den Heimen für die Kinder vielfach katastrophal waren. Nach der Schliessung der Heime begannen einige der inzwischen erwachsenen ehemaligen Zöglinge diesen Skandal an die Öffentlichkeit zu bringen. 1990 fanden sich 3000 Betroffene unter dem Namen Orphelins de Duplessis zusammen. Sie verlangten Akteneinsicht, dokumentierten den schrecklichen Missbrauch, die brutalen Erziehungsmethoden durch Priester, Nonnen, Erzieher und katholische Administratoren.

Die Opfer verlangten Genugtuung und finanzielle Wiedergutmachung für das an ihnen begangene Unrecht. Neben Regierung und Kirche standen auch die Ärztekammer unter Anklage, weil die falsche geistig-medizinische Einstufung in den Akten es den Ärzten erlaubte, an den Kindern illegale Medikamente zu testen. Die Mehrheit der Betroffenen bekam kaum Bildung, wurde nicht aufs Leben ausserhalb des Heims vorbereitet. Manche gerieten durch die erlittene, extreme Gewalt auf die schiefe Bahn, zeigten diverse Formen abweichenden Verhaltens oder verblödeten. Und Suizid war in häufig.

Dank dem Engagement des Journalisten und Schriftstellers Bruno Roy wurde eine breite Öffentlichkeit auf den Skandal aufmerksam, so dass die Regierung im März 1999 sich nach langer Weigerung endlich offiziell entschuldigte und eine symbolische Wiedergutmachung von 1000 kanadischen Dollars pro Opfer offerierte. Diese lächerliche Summe wurde zurückgewiesen. Ein Bürgervertreter kritisierte die Taktik der Regierung, das Problem zu verharmlosen, um ja nicht eine ernsthafte Aufarbeitung in Angriff nehmen zu müssen. 2001 sprach sich der Führer der (Parti québécois) Bernard Landry für eine Wiedergutmachung von 10’000 $CAD pro Person, sowie 1’000 $CAD für jedes Jahr der Fremdplatzierung in einer psychiatrischen Institution aus. Das ergab im Schnitt rund 23‘000 $CAD pro Waisenkind, welche als geistesschwach eingestuft worden waren. Die Opfer anderer Gewaltformen gingen leer aus. Und die noch lebenden Täter wurden nie für ihre Vergehen gerichtlich belangt.

Text und Übersetzung: Walter Zwahlen

Kommentar:
Die Geschichte der Waisenkinder in französisch Kanada bleibt bis heute ein beredtes Zeugnis für den langen Kampf um Gerechtigkeit und Aufklärung. Noch tut sich die Mehrzahl der Staaten, in denen sich Ähnliches ereignete, weiterhin schwer, die dunklen Kapitel ihrer Geschichte offenzulegen und ernsthaft anzugehen. Ihr Handeln ist durch Beschönigung, Wegschauen und Dementis geprägt. Statt die zu Recht geforderte Transparenz zu vollziehen, herrscht in vielen politischen Kreisen nach wie vor eine rückständige Verweigerungstradition, welche nur unter enormem Druck widerwillig aufgegeben wird. Und um die geforderte finanzielle Wiedergutmachung beginnt meist ein peinliches, kleinkrämerisches Feilschen.

Video-Links:

     
  Les orphelins de Duplessis, film documentaire, réalisation Marc Petitjean, Coup d’œil, Arte France, CNC, 2003, 52 minutes. Nestor et les oubliés/Nestor and the Forgotten, film documentaire, réalisation Benoît Pilon, Films Seville, 2006, 75 minutes.

Buch:


Bruno Roy:
Les calepins de Julien
Les Éditions XYZ inc., Montréal, ISBN : 978-2-89261-394-0