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Interview mit Professor Markus Furrer

Die Sozialgeschichte der Schweiz war bis vor wenigen Jahren bei den Historikern kaum ein Thema. In den letzten 5 Jahren gab es drei Nationalfondstudien, Forschungen in 5 Kantonen und Kredite in zwei weiteren für die Aufarbeitung der Fremdplatzierung. Professor Markus Furrer untersucht im Moment im Auftrag des Regierungsrates die Geschichte der Kinderheime des Kantons Luzern in den Jahren 1930 bis 1970.

netzwerk-verdingt: Wie kamst Du dazu, Dich mit der Geschichte der Fremdplatzierung zu beschäftigen?
Markus Furrer: Es gab den Auftrag der Kantonsregierung zur Thematik. Als Historiker für Zeitgeschichte fiel dies in mein Ressort. Gewünscht wurde eine historische Aufarbeitung, welche die Vorkommnisse in den zeitlichen Kontext setzen kann. Der Forschungsauftrag enthielt Fragen mit einem eindeutigen Bezug zur Gegenwart. Wir bewegen uns deshalb in einer Zeit der Mitlebenden und damit verbunden ist auch der Zugang zur Oral history. Die Methode ist mir selber bekannt. Für unsere Analyse spielt sie eine wichtige Rolle neben den Archivrecherchen. Unsere Untersuchung tangiert damit in einem Bereich der Sozialgeschichte. Meine bisherigen Interessen gelten der Politik-, Kultur sowie Sozialgeschichte, wie auch der Erinnerungskultur. Sehr häufig sind es Medienschaffende und Publizisten, die solch brennende Themen zuerst aufgreifen. Das war auch in unserem Falle typisch. Die wissenschaftliche Aufarbeitung der Historikerinnen und Historiker erfolgt oft in einem zweiten Schritt.

n-v.: Kannst Du kurz den vom Regierungsrat des Kantons Luzern erteilten Forschungsauftrag beschreiben?
M.F.: Der Auftrag war eine Reaktion auf die Publikation in den Medien. Es entstand ein Druck durch diverse Vorwürfe auf die Behörden, der dazu führte, dass die Aufarbeitung durch ein offizielles Mandat in Gang kam. Die Regierung wollte Klarheit darüber, ob und wie der Staat seine Aufsichtsfunktion gegenüber den Kinderheimen über Jahrzehnte wahrgenommen hat. Einige Einzelfälle waren bekannt geworden, nun sollten die Erziehungsmethoden genauer untersucht werden. Für uns ging es primär um die Heime des Kantons. Das Kloster Ingenbohl betreibt eine eigene Untersuchung, und die Landeskirche des Kantons Luzern hat ein drittes Projekt in Arbeit. Mit diesen beiden Projektgruppen sind wir in engem Kontakt.

n-v: Du hast mit 50 ehemaligen Heimkindern Interviews gemacht. Was ist Dir dabei aufgefallen, beziehungsweise gab es ganz besondere Erkenntnisse?
M.F.: Es gibt eine Häufung von ähnlichen Erlebnissen und Heimerfahrungen der Befragten. Gegenstand unserer Analyse ist auch der jeweilige Grund für die Heimeinweisung. Wir stellten fest, dass die negativen Erfahrungen überwiegen, und die damals erfolgte Traumatisierung sich oft weit bis ins Erwachsenenleben hinein auswirkte. Einzelne hatten durchaus auch positive Erinnerungen. Beachten muss man natürlich auch die unterschiedlichen Zeitphasen. In den 1960er Jahren erfolgte eine Öffnung in der Heimpädagogik. Deshalb sind die Voraussetzungen und Erlebnisse in diesem Zeitabschnitt vielfältiger. Was uns besonders auffiel, war die Schuldzuweisung bei sexuellen Übergriffen auf die Opfer und die Tabuisierung durch die klerikalen Stellen. Berücksichtigen muss man auch die internen Spannungen innerhalb der Institution.

n-v: 2011 wurde bereits bereits einen Zwischenbericht über die bisherigen Untersuchungen pubilziert. Ende Juli 2012 wird Dein Ihr Schlussbericht veröffentlicht. Was versprichst Du Dir von dieser Arbeit?
M.F.: Wir werden einen umfangreichen Gesamtbericht verfassen, der auch einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich sein soll. Von den Interviews mit 50 Zeitzeugen liegen rund 1500 transskribierte Seiten vor. Sie sind für uns eine wichtige Grundlage. Wie unsere Untersuchung zeigt, war die Situation im Heim für einige der von uns Befragten äusserst gravierend. Für die Betroffenen erwarten wir durch diese Arbeit eine Entlastung und Genugtuung. Die Thematik findet Eingang in ein breiteres öffentliches Bewusstsein. Endlich anerkennt und glaubt man, was diesen Menschen Schlimmes widerfahren ist, statt es weiter zu verdrängen wie bis anhin. Wir wollen auch die Mechanismen aufdecken, wie es zu dieser Form der Fremdplatzierung und Behandlung von Kindern in Heimen gekommen ist. Welche Rahmenbedingungen dafür verantwortlich waren, und wie sich der Wandel im letzten Viertel des untersuchten Zeitraumes ausgewirkt hat. Weiter haben wir vor, zur Thematik ein Handbuch zuhanden der Lehrer für den Unterricht in Zeitgeschichte zu erarbeiten.

Interview: Walter Zwahlen

Kurzbiografie:
Markus Furrer ist Professor an der Pädagogischen Hochschule Zentralschweiz Luzern und Titularprofessor an der Universität Fribourg. Er lehrt europäische und schweizerische Zeitgeschichte mit Schwerpunkten in der Politik-, Kultur- und Sozialgeschichte sowie der Geschichtsvermittlung. Zentrale Themenbereiche sind die Europäische Integration, der Kalte Krieg sowie die Sozial- und Fürsorgepolitik. Derzeit untersucht er im Auftrag der Luzerner Kantonsregierung die Vorkommnisse in Luzerner Kinderheimen im Zeitraum von 1930 bis 1970. Ein weiteres Projekt ist die Herausgabe eines Handbuches für Zeitgeschichte im Unterricht.