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Gutachten als Mittel, um Menschen zu brechen – am Beispiel einer Frau

Lisbeth Herger

Die Biografie von Pauline Schwarz ist auch als Hommage stellvertretend für viele Geschlechtsgenossinnen im 19. Und 20. Jahrhundert angelegt. Frauen aus der Armut mit meist schlechten Startbedingungen. Bereits von Kind auf geprägt durch Not, Elend, Hunger, Arbeitslosigkeit, Alkoholismus oder Tod eines Elternteils. Die meisten nie gefördert, von bessergestellten Geschlechtsgenossinnen verachtet, früh verheiratet, wiederholt schwanger, der Gewalt oder Willkür der Männer schutzlos ausgeliefert, nie gewürdigt. Das von Lisbeth Herger akribisch recherchierte Buch zeigt eine tragisches Frauenschicksal als Beispiel einer ungerechten Gesellschaft mit einer äusserst fragwürdigen Moral über eine viel zu lange Zeit im 20. Jahrhunderts auf.

Kurzinhalt:
Lisbeth Herger nimmt sich mit Pauline Schwarz, Pseudonym (1918–1982) des Lebens einer Dienstmagd an, die in ärmlichen Verhältnissen in der Ostschweiz aufwuchs. Pauline heiratete jung, hatte fünf, Ehemänner, wurde fünf Mal Mutter, und ihr Lebensweg schien so wie denjenigen von Tausenden ungebildeter Frauen aus der Unterschicht vorgezeichnet. Doch Pauline Schwarz zeigte sich widerspenstig, behauptete sich gegen den Willen ihrer verschiedenen Gatten und versuchte erfolglos, um die momentane Misere zu überwinden durch kleine Diebstähle und Betrügereien an Waren und Bargeld zu gelangen. Gefängnis und psychiatrische Internierungen waren die Folgen. Denn ihr Verhalten entsprach nicht dem gängigen Rollenbild. Im Gutachten der Zürcher Klinik Burghölzli von 1942 wurde sie erstmals als «moralisch defekt» bezeichnet. Lisbeth Herger sichtete die ausgezeichnete Quellenlage und durchforstete Paulines Leben anhand der umfangreichen Akten über mehr als 18 Stationen in 6 Kantonen, 6 Strafanstalten. Eine Vielzahl von Verhören, drei psychiatrischen Gutachten, Gerichtsurteile, Vormundschafts-, Scheidungsakten.

Kommentar:
Das verheerende Zusammenwirken von Justiz und Psychiatrie zeigt eindrücklich den strafenden, unverzeihlichen Ansatz der damaligen Sozial- und Polizeibehörden, welche kaum je mildernde Umstände oder Unterstützung in Betracht zogen, sondern die Abweichung von der Norm mit Fehlverhalten und Delinquenz für die jeweilige Bestrafung begründeten. Pauline Schwarz geriet vor allem auch als Frau in die Mühle von Instanzen, welche wie Unfehlbare auftraten, sich dazu berechtigt wähnten, mit höchst fragwürdigen Zuschreibungen die Beschuldigte für „ihre Vergehen“ büssen zu lassen. Schon der Gutachterausdruck „moralisch defekt“ ist eine Ungeheuerlichkeit. Die Vielzahl von Männern, nicht selten aus besseren Kreisen, welche ledige Frauen schwängerten und diese verantwortungslos im Elend zurückliessen, bekamen nie ein solch fatales Verdikt. Den „Fehltritt“ lastete man generell den Opfern an. Die unzähligen Befragungen und Untersuchungen fussten auf absurden Deutungsmustern. Für Pauline wurde dies zunehmend zu einer Negativspirale, aus der es fast kein Entrinnen gab. Untersuchungshaft, Verurteilung, Entmündigung, Versorgung, Zwangs- und Strafanstalt. Einschliesslich Kahlrasur und anstelle des Namens eine Nummer. Faschismus lässt grüssen. Begleitet von Eheverbot, Isolation, Sterilisationsantrag. Pauline wurde zu einem Unmenschen degradiert, obwohl sie keine schweren Delikte beging. Das langjährige Prozedere mit vielen unnötigen, sie zusätzlich belastenden Fremdplatzierungen zeugen von Inkompetenz, Diletantismus, Arroganz und Niedertracht der Vollstrecker. Die Polizisten, welche die ersten Fakten kreierten, verfügten über enge auf Kriminelle gemünzte Deutungsparagrafen. Für diese Aufgabe waren sie weder vorbereitet noch geeignet. Man wähnt sich beim Lesen dieser Papiere wie im finsteren Mittelalter. Und erkennt darin deutlich die Wurzeln der späteren, skandalösen Fichierung während des Kalten Krieges. Eine Kontrolle über die Rechtmässigkeit der amtlichen Massnahmen fehlte vollständig. Dabei zeigte sich in dem Aktenberg, dass Inkompetenz, Gerangel um Zuständigkeiten, Rechtsmissbrauch, einseitige Auslegung der Fakten zu Ungunsten der Angeschuldigten etc.etc. Das himmelschreiende Gutachterurteil „moralisch defekt“ wird durch die Aufarbeitung zum Bumerang für die damaligen politischen Verhältnisse und deren Vertreter: moralisch defekt. Die grösste Lücke in diesem Geschehen der gesunde Menschenverstand!

Text: Walter Zwahlen


«moralisch defekt»
Pauline Schwarz zwischen Psychiatrie und Gefängnis
Lisbeth Herger, Verlag hier und jetzt, 2020

Psychiatrische Klinik Burghölzli Zwangsarbeitsanstalt Schachen
Strafanstalt Lenzburg Psychiatrie Königsfelden