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Josef Haslinger: Mein Fall

Josef Haslinger

Die Vergangenheitsbewältigung ist für Opfer oft ein Minenfeld. Josef Haslinger beschreibt in diesem Buch seine Missbrauchsgeschichte als kindliches Opfer physischer und sexueller Gewalt im Kloster Zwettl. Er rechnet aber auch mit den österreichischen Opferschutzverbänden ab, die ihn nach seinem Hilfeersuchen zunächst nur herumreichten. Man versteht, dass Haslinger sich einfachen Täter-Opfer-Schemata verweigert, aber dennoch offenlegen will, wie sehr ihn seine Kindheitserlebnisse verfolgen, wie die Täter-Vertreter in den Kommissionen nach wie vor auf Schadensbegrenzung aus sind, weil ihre Politik eindeutig auf moralische Reinwaschung hinausläuft, statt auf Wahrheitssuche.

Seine Geschichte:
"Meine Eltern hatten mich der Gemeinschaft der Patres anvertraut, weil mich dort das Beste, das selbst sie mir nicht geben konnten, erwarten würde. Ich habe sie heimlich oft verflucht, weil sie mich nicht darauf vorbereitet hatten." Als Zehnjähriger wurde Josef Haslinger Schüler des Sängerknabenkonvikts Stift Zwettl. Er war religiös, sogar davon überzeugt, Priester werden zu wollen, er liebte die Kirche. Seine Liebe wurde von den Patres erwidert. Erst von einem, dann von anderen.

Ende Februar 2019 tritt Haslinger vor die Ombudsstelle der Erzdiözese Wien für Opfer von Gewalt und sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche in Österreich. So muss er seine Geschichte vor drei unterschiedlich besetzten Gremien erzählen. Bis im dritten Anlauf der Protokollant ihn schliesslich auffordert, die Geschichte doch bitte selbst aufzuschreiben. Was er nun mit diesem Buch tat. Am Anfang dieses Schrittes aber stand zuerst Sprachlosigkeit (Seite 90).

"Mein Fall" ist zugleich ein hervorragendes Beweisstück eines langen Prozesses der Vergangenheitsbewältigung. Dies begann mit Erzählungen und Kurzgeschichten. In denen Missbrauchsgeschichten anonymisiert zur Sprache kamen. Erst mit 60 Jahren, war Haslinger soweit, dass er seine Lebenslügen als Selbstschutzinstrument erkannte. Dass es Unschärfen und Widersprüche in seinem Empfinden und Denken gab. Gewahr wurde, dass ihn die Erinnerungen an den Missbrauch ein Leben lang verfolgt hatten. Und dass ihm auch klar wurde, dass das ganze Erziehungssystem ein Angriff auf Wehrlose war (Seite 91). Weiter zeigt seine Erkenntnis einer grundlegenden Verstörung durch den erlittenen Missbrauch, dass das Diktat des Zölibats zu einer grundlegenden Verstörung des priesterlichen Lebens führte.


Die Zisterzienser-Abtei Stift Zwettl im Waldviertel in Niederösterreich.

Kurzbiografie:
Josef Haslinger wurde in Niederösterreich. Er war Sängerknabe an der Schule des Zisterzienserklosters Zwettl und besuchte dann ab 1969 das Gymnasium in Horn, wo er 1973 die Matura ablegte. In Wien studierte er Philosophie, Theaterwissenschaften und Germanistik wo er 1980 promovierte. In den 1980er Jahren war er jahrelang Generalsekretär der Grazer Autorenversammlung, der grössten Schriftstellervereinigung Österreichs. In seinen Arbeiten übt Haslinger Gesellschaftskritik und thematisiert den Umgang mit der Geschichte des Landes Österreich. 1992 begründete Josef Haslinger die Menschenrechtsorganisation SOS Mitmensch mit. Haslinger lehrt seit 1996 Literarische Ästhetik am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Haslinger ist Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland und war ab Mai 2013 bis im April 2017 dessen Präsident.

Text: Walter Zwahlen


Josef Haslinger, Mein Fall, Fischer Verlag, 2020


Ein längeres Interview mit Josef Haslinger finden Sie hier.