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Interview mit Thomas Huonker

Nur dank beharrlichen Einzelpersonen kam die historisch-wissenschaftliche Forschung und Aufarbeitung der Fremdplatzierung als wichtige Thematik der Schweizer Sozialgeschichte überhaupt in Gang. Thomas Huonker befasst sich intensiv mit der leidvollen Geschichte der Jenischen in der Schweiz, war mitverantwortlich für das Zustandekommen des ersten Nationalfondsprojekts zum Thema Verdingkinder und ist zur Zeit mitten in einer grösseren Studie über die Kinderheime in der Schweiz.

n-v: Du warst zusammen mit Marco Leuenberger und Erwin Marti Mitinitiant für die Aufarbeitung der Verdingkinderproblematik in der historisch-wissenschaftlichen Forschung. Wie kam es dazu?

Thomas Huonker

T.H: Zwischen 2003-6 lief das Nationalfonds Forschungsprojekt 51 über Jenische, Roma und Sinti, für das ich zuständig war. Da hatte ich auch Kontakt mit anderen Forschern, die Projektgesuche einreichten. Marco Leuenberger war der erste, der 1991eine Lizentiatsarbeit zum Thema Verdingkinder verfasst hatte. Erwin Marti, der C.A.Loosli Biograf, Marco Leuenberger und ich setzten uns zusammen. Dann kamen noch Loretta Seglias, die Autorin der Studie über die Bündner Schwabengänger-Kinder und Verena Blum über die Armenfürsorge in Heimberg BE. Ich schlug vor, ein Nationalfondsprojekt einzureichen nahm dazu Kontakt mit der Uni Basel, mit Heiko Haumann, dem Professor für Zeitgeschichte und Ueli Maeder, dem Soziologieprofessor auf und verfasste die Projekteingabe. So kam diese interdisziplinäre Zusammenarbeit für das bisher grösste Nationalfondsprojekt zur oral history zustande. Da das Projekt nur teilweise bewilligt wurde, konnten nur Marco und Loretta teilzeitlich daran arbeiten. Ueli Maeder und Heiko Haumann haben viele ihrer Mitarbeitenden und Studenten in die Arbeit integriert, die zu Minimaltarifen viele Interviews mit ehemaligen Verdingkindern führten. Ich selber interviewte zwei Personen. Zum Glück fand diese Aufarbeitung ein breites Echo bei den Betroffenen und den Medien. Später kam dann noch die Wanderausstellung „Verdingkinder reden“ als wichtiges Element dazu.

n-v: Du hast Dich in den 80-er und 90er Jahren des letzten Jahrhunderts intensiv mit der Geschichte der Jenischen in der Schweiz befasst. Was ist das Besondere dieser Gruppe in der Vormundschaftspraxis und Fremdplatzierung?

T.H.: Ich befasse mich noch immer mit dem Thema. Die Auswertung des erwähnten Nationalfondsprojekts ist noch nicht abgeschlossen. Wir haben viel Neues gefunden, das noch nicht publiziert ist. Es fehlt aber im Moment das dafür zusätzliche Geld. Spezifisch ist bei den Jenischen, dass das ganze Spektrum der behördlichen Zwangsmassnahmen zur Anwendung kam: Heimeinweisung, Verdingung, administrative Versorgung, Psychiatrisierung und Zwangssterilisation. Dieses Instrumentarium war zudem gezielt auf sie als ethnische Minderheit gerichtet. Erfreulich ist, wie sich die Jenischen wehrten, ihre Kultur zurückeroberten und zu sich selber zurückfanden. Dieser Prozess geht weiter und ich begleite ihn. Die Radgenossenschaft hat auch erreicht, dass eine Entschädigung ausbezahlt wurde, wenn auch eine bescheidene.

n-v: Welches Ereignis hat Dich im Verlaufe dieser Forschung am meisten geprägt, beeindruckt?

T.H.: 1. Dass es im Verlaufe der Forschungsarbeit immer neue, noch krassere Einzelfälle gab, die stets noch schlimmer, bedrückender waren. Geschichten von schier unvorstellbaren Grausamkeiten. 2. Dass sich die Betroffenen wehren konnten, welche die Tortur überlebt hatten, und aus der Opferrolle herausfanden. 3. Über die Jenischen habe ich auch Zugang zu den Zwangssterilisierten, den Administativ-Versorgten und den Verdingkindern bekommen. Da bestehen Ähnlichkeiten: ein Grossteil auch dieser Gruppen ist eugenisch-rassistisch und biologisch als minderwertig eingestuft worden. Es gab aber für sie alle trotz der rechtsstaatlichen Fortschritte seit dem 19. Jahrhundert keine Rechtsgleichheit. In der Forschung erwirbt man sich mit diesen Themen jedoch kaum Lorbeeren. Eher wird man ausgegrenzt, wenn man sich als erster und konsequent diesen dunklen Kapiteln der Schweizer Zeitgeschichte widmet.

n-v: Gibt es weitere Themen im Umfeld der Fremdplatzierung die noch bearbeitet, erforscht werden sollten?

T.H: Ich bin an einem neuen Projekt über Heimkinder und der Geschichte der Heime. Ein privater Sponsor, selber ein ehemaliges Heimkind, hat dieses Projekt ermöglicht, weil ihm die schleppende Vorgehensweise der Behörden missfiel. Es gibt aus der Vergangenheit kaum kritische Berichte über diese Anstalten, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wie Pilze aus dem Boden schossen. Die wenigen schriftlich Dokumente sind fast nur geschönte Gesamtdarstellungen. Positiv ist, dass sich nun vermehrt jüngere ForscherInnen für diese Themen imteressieren.

Interview: Walter Zwahlen

Bibliografie:
Thomas Huonker: Fahrendes Volk - verfolgt und verfemt. Jenische Lebensläufe. Zürich 1987, zweite Auflage 1990.
Thomas Huonker / Regula Ludi: Roma, Sinti und Jenische. Schweizerische Zigeunerpolitik zur Zeit des Nationalsozialismus. Herausgegeben von der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz - 2. Weltkrieg (Bergier-Kommission), Bern 2000 / Zürich 2001
Thomas Huonker: Anstaltseinweisungen, Kindswegnahmen, Eheverbote, Sterilisationen, Kastrationen. Fürsorge, Zwangsmassnahmen, "Eugenik" und Psychiatrie in Zürich zwischen 1890 und 1970. Zürich 2002
Thomas Huonker: Wandlungen einer Institution. Vom Männerheim zum Werk- und Wohnhaus. Zürich 2003
Loretta Seglias / Marco Leuenberger / Thomas Huonker (Redaktion): Bericht zur Tagung ehemaliger Verdingkinder, Heimkinder und Pflegekinder am 28. November 2004 in Glattbrugg bei Zürich. Herausgegeben von der Vereinigung "Verdingkinder suchen ihre Spur". Zürich 2005
Thomas Huonker / Peter Niederhäuser: 800 Jahre Kloster Kappel - Abtei, Armenanstalt, Bildungshaus. Zürich 2008.

Kurzbiografie:
Geboren 1954, aufgewachsen in Zürich-Schwamendingen, studierte Thomas Huonker in Zürich und Genf Geschichte, Germanistik und Ethnologie. Seine Dissertation schrieb er über den Sammler und Historiker Eduard Fuchs. Thomas Huonker arbeitet neben seiner Arbeit als Historiker als Dozent an der Gestalterischen Berufsmaturitätsschule Zürich. Er ist mit der Pfarrerin Renata Huonker verheiratet, sie haben drei erwachsene Kinder. Prägend war für ihn die Begegnung mit Jenischen, welche die Pro Juventute aus ihren Herkunftsfamilien gerissen und in Heime, als Verdingkinder zu Bauern, in Erziehungsanstalten, Strafanstalten und psychiatrische Kliniken verbrachte, um sie ihrer Kultur zu entfremden. In der Folge erforschte er auch das weitere Spektrum von Zwangsmassnahmen von der Fremdplatzierung bis zur Zwangssterilisierung, wie es auch gegen die Unterschicht der Mehrheitsbevölkerung eingesetzt wurde. Zur Zeit leitet er das Projekt Historische Aufarbeitung Kinderheime Schweiz. (www.kinderheime-schweiz.ch)