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«Zwang war der Normalfall»

Thomas Huonker

«Renitent», «liederlich», «asozial» oder «arbeitsscheu». Diese Attribute reichten, um bis 1981 Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen zu werden. Zum internationalen Tag der Menschenrechte wurde vergangenen Sonntag im Kafi Klick dieses dunkle Kapitel schweizerischer Geschichte beleuchtet. Welches Unrecht die Betroffenen erfahren haben, und welche Ungerechtigkeiten auch heute, über 30 Jahre später, noch herrschen, schildert der Historiker Thomas Huonker im Gespräch mit Julian Büchler. Thomas Huonker ist als Historiker und Forscher seit über 40 Jahren auf dem Gebiet engagiert tätig. Er war seit 2006 auch dafür mitverantwortlich, dass mehrere Forschungsprojekte zustande kamen, die ohne seine profunde Kenntnis und Kompetenz nicht realisiert worden wären. Dazu ist er Autor mehrerer Studien, Bücher und Artikel zu dieser breitgefächerten und komplexen Thematik. Wir danken, dass wir dieses Interview im Einverständnis mit der ps-zeitung, dem Journalisten Julian Büchler und Thomas Huonker himself für den Februar newsletter des Vereins netzwerk-verdingt verwenden dürfen.

Julian Büchler: Durch die breite mediale Aufmerksamkeit und dank der Wiedergutmachungsinitiative sind fürsorgerische Zwangsmassnahmen vielen ein Begriff. Was ist darunter konkret zu verstehen?
Thomas Huonker: Das ist ein sehr breiter Sammelbegriff. Er umfasst für die Zeit vor 1981 und zum Teil auch später Eheverbote, Ausschaffungen, Familientrennungen, Kindswegnahmen, Anstaltseinweisungen, Zwangssterilisationen und selbst Hirnoperationen. Fürsorgerische Zwangsmassnahmen wurden durch Vormundschaftsbehörden (heute KESB), Gemeindebehörden, Bezirksbehörden und Kantonsbehörden, Lehrer, Pfarrer, Schulärzte und Psychiater verfügt oder veranlasst. Es gab wohl Rekursmöglichkeiten, doch keine öffentlichen Verfahren mit Verteidigung durch Rechtsanwälte. Dies, obwohl es um sehr einschneidende Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte ging: Einsperrung in geschlossene Anstalten, oft für Jahre, oder in ‹offene› Anstalten, deren Insassen aber bei Entweichung polizeilich wieder eingefangen wurden. Schwer wogen auch behördliche Eingriffe zur Familienverhinderung, die Verunmöglichung, Kinder zu haben, und persönlichkeitszerstörende Eingriffe wie Hirnoperationen.

J.B.: Welche Zustände herrschten in solchen Anstalten?
T.H.: Viele Anstalten hiessen seit ihrer Gründung Ende 19. Jahrhundert bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts Zwangsarbeitsanstalten. Dementsprechend herrschte Arbeitszwang, meist in den angegliederten landwirtschaftlichen Betrieben. Teilweise erzielten diese Anstalten, oft Abteilungen von Strafanstalten, sogar Gewinn. So beispielsweise die Anstalten von Witzwil in Bern bis Ende der 1950er-Jahre. Die Unterkünfte waren meist grosse Schlafsäle, teilweise schlecht geheizt, oder Zellen ohne Toiletten. Die Nahrung war schlecht gekocht und möglichst billig: Kartoffeln und Gemüse zweiter Wahl. Nahrhaftere Produkte wie Milch, Butter, Käse, Fleisch oder Gemüse erster Wahl wurden verkauft oder von Direktion und Personal verzehrt. Oft waren die Aufseher bewaffnet. Es kam vor, dass Ausbrecher auf der Flucht erschossen wurden. Bei Widerstand wurden die Anstaltsinsassen in den «Bunker» oder ins «Cachot» gesperrt: Dunkelarrest bei Wasser und Brot. Wenn sie herauskamen, konnten sie sich kaum mehr auf den Beinen halten.
Auch wurden Anstaltszöglinge, vor allem Kinder und Jugendliche, aber auch Erwachsene, verprügelt oder ausgepeitscht. Jüngere und schwächere wurden sexuell missbraucht, teilweise vom Personal, teilweise von älteren oder brutaleren Mitinsassen.

J.B.: Unter welchen Umständen kam es zur Verordnung solcher Zwangsmassnahmen?
T.H.: Das war sehr willkürlich. Die entsprechenden Paragrafen des Zivilgesetzbuchs und der so genannten Versorgungsgesetze waren sehr weit gefasst. Etikettierungen wie «renitent», «liederlich», «asozial» oder «arbeitsscheu» genügten für eine Einweisung. Fluchtversuche führten zur Verlängerung der Einsperrung.
Es gab wie gesagt keine Gerichtsverfahren, keine Pflichtverteidiger. Weil die Betroffenen überwiegend zur armen Unterschicht gehörten, konnten sie sich auch keine privaten Rechtsanwälte leisten. Rekurse hatten sie an dieselben Instanzen zu richten, die sie eingewiesen hatten. Oft wurden ihre Briefe und Beschwerden abgefangen und nicht weitergeleitet.

J.B.: Von wie vielen Betroffenen gehen Sie heute aus?
T.H.: Seit der Einrichtung dieses Systems fürsorgerischer Zwangsmassnahmen sind es Hunderttausende. Es wird unterschieden zwischen Betroffenen von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen vor 1981 und jenen von späteren Zwangsmassnahmen mittels neuerer Gesetzlichkeiten. Von denjenigen vor 1981 – und nur diese Opfer sollen Zahlungen zur Abgeltung des an ihnen verübten Unrechts erhalten – sind die allermeisten verstorben. Es leben heute vermutlich noch etwa zehntausend Betroffene. Viele wollen die seelisch gewissermassen einbetonierten Horrorerlebnisse nicht wieder hochkommen lassen und melden sich heute nicht mehr. Oft erzählen sie selbst nächsten Angehörigen diese Erlebnisse nie, sondern versuchen sie ein Leben lang zu verdrängen.
Zu beachten ist, dass Personen, die z.B. noch 1978 eingewiesen wurden, heute gar noch nicht so alt, sondern vielleicht Ende vierzig oder in den Fünfzigern sind. Sehr viele sind wegen der gesundheitsschädigenden und traumatisierenden Behandlung früh verstorben, viele auch durch Suizid.

J.B.: Das Schweizerische Fernsehen arbeitete in einem Dok-Film einen Teil der Geschichte von Ursula Biondi auf, die als junge Frau Opfer von fürsorgerischen Massnahmen wurde. Sie schildert, dass ihre Eltern von den Behörden zu einer fürsorgerischen Zwangsmassnahme gedrängt wurden. Ein Einzelfall?
T.H.: Nein, Zwang war der Normalfall. Eine Form des Zwangs war die Drohung mit andernfalls noch schärferen Zwangsmassnahmen. Im Fall von Ursula Biondi wurde den Eltern von den Behörden vorgemacht, ihre Tochter käme zur beruflichen Weiterbildung in eine Art Töchterinstitut. Sie merkten zu spät, dass sie ins Frauenzuchthaus Hindelbank kam. Es war eine schwere Stigmatisierung administrativ Eingewiesener, dass sie in Zuchthäuser, zu Kriminellen, verbracht wurden. Obwohl sie keine Straftat begangen hatten, galten sie der Aussenwelt fortan als «Zuchthäusler».

J.B.: Auf welche gesetzlichen Grundlagen wurden solche Einweisungen denn gestützt?
T.H.: Es waren die damaligen kantonalen Versorgungs- und Armengesetze, oft auch «Armenpolizeigesetze» genannt. Sie zielten eindeutig diskriminierend auf die Unterschicht. Wichtig waren auch die einschlägigen, sehr weit gefassten Gummiparagrafen des früheren Zivilgesetzbuchs von 1912. Die meisten Betroffenen fürsorgerischer Zwangsmassnahmen stammten aus armen Familien. Wenn der Vater oder die Mutter wegen Tod, Krankheit oder Scheidung ausfiel, wurden die Familien der Unterschichten von den Fürsorgeinstanzen aufgelöst. In reicheren Familien gab es finanzielle Reserven oder Familienstiftungen.

J.B.: Die Praxis der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen stand sogar im Widerspruch zur Europäischen Menschenrechtskonvention. Erst im Jahr 1981, sieben Jahre nach deren Ratifizierung durch die Schweiz, wurden die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen weitgehend abgeschafft. Warum war hier die Politik nicht aktiver?
T.H.: Diese menschenrechtswidrigen Versorgungsgesetze mussten wegen des Drucks von aussen, z.B. vom Europarat, aufgehoben werden, auch wenn er einen Aufschub von sieben Jahren gewährte. Auch das Frauenstimmrecht war ja in der Schweiz erst 1971 eingefügt worden. Auch diese Diskriminierung war nicht kompatibel mit der EMRK. Die Politik, insbesondere der bürgerlichen Parteien, bevorzugte und schützte lange die eigenen, diskriminierenden und menschenrechtsfeindlichen Regelungen.

J.B.: Wie war die öffentliche Wahrnehmung dieser Praxis in der breiten Gesellschaft? Wusste man nichts davon, oder wollte man es gar nicht wissen?
T.H.: Alle wussten, dass die Verdingkinder ausgebeutet wurden und litten. Das beschrieb Jeremias Gotthelf schon 1837. Die Zwangsarbeitsanstalten, die Armenhäuser, die Armenanstalten, die Erziehungsanstalten, die Fabrikheime waren weit verbreitet und durchaus sichtbar. Kinder und Jugendliche, die Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen geworden waren, wurden oft in der Schule und auf dem Schulweg gehänselt und verspottet.

J.B.: Wie geht es den Betroffenen von damals heute?
T.H.: Viele sind wie gesagt früh verstorben, durch Krankheiten, Drogen, Suizid. Auch die anderen blieben lebenslänglich belastet durch ihre Traumatisierung. Bestimmte Geräusche, Gerüche, Worte etc. lösen in ihnen immer wieder Angstschübe, Panikattacken, Verunsicherung oder Aggression aus; oft führt das zu Missverständnissen mit der Umgebung. Einige sind heute sehr aktiv, schreiben Bücher, halten Vorträge, organisieren sich in Vereinen. Es ist eine Erleichterung für sie, dass sie, seit das Thema kritisch aufgearbeitet wird, nicht mehr als Lügner und Nestbeschmutzer abgestempelt werden.

J.B.: Mit welchen Problemen haben sie besonders zu kämpfen?
T.H.: Die Ausbildungschancen als Verding­ oder Heimkinder waren schlecht. Bei Bewerbungen waren sie im Nachteil. Sie mussten ihre Herkunft verleugnen. Viele fanden nur schlecht bezahlte Arbeitsstellen und verloren auch diese bald wegen gesundheitlichen oder psychischen Problemen. Die meisten leben heute in finanziell sehr ärmlichen Verhältnissen von IV, AHV und Ergänzungsleistung. Nur wenige haben eine 2. oder 3. Säule der Altersvorsorge. Jede grössere Rechnung, etwa vom Zahnarzt, ist ein Problem.

J.B.: Bundesrätin Simonetta Sommaruga entschuldigte sich im Namen der Regierung am nationalen Gedenktag 2013 bei den Betroffenen. Ist damit alles wieder gut?
T.H.: Die Entschuldigung vom 11. April 2013 im Kulturkasino Bern, nicht nur von Bundesrätin Simonetta Sommaruga, sondern auch von Vertretern der Kantone, der Gemeinden, der Kirchen und der Bauern, gegenüber den Betroffenen war für diese und für die Öffentlichkeit sehr wichtig, wie vorher schon die Entschuldigung von Bundesrätin Eveline Widmer­Schlumpf gegenüber den administrativ Versorgten am 10. September 2010. Es brauchte aber den Druck der Medien und dazu noch den Druck der sogenannten Wiedergutmachungsinitiative von Guido Fluri, ehemals selber Betroffener, um auch Gelder flüssig zu machen.

J.B.: Kann man solche Geschehnisse überhaupt wiedergutmachen?
T.H.: Wiedergutmachung ist das falsche Wort. Dieses Unrecht, diese Diskriminierungen und Ausgrenzungen, diese Stigmatisierungen können nicht wieder gut gemacht werden; sie wirken lebenslänglich nach. Immerhin ist es nun für die Betroffenen leichter, dazu zu stehen: Sie finden mehr Verständnis. Guido Fluris Initiative hat finanzielle Abgeltungen an die Betroffenen in der Höhe von 500 Millionen Franken gefordert. Bundesrat und Parlament haben den Betrag auf 300 Millionen herabgedrückt. Das Parlament hat dann auf Druck der Rechtsbürgerlichen hin noch eine Obergrenze von 25 000 Franken pro Opfer festgelegt. Angesichts der Gesundheitsschäden, der Verdienstausfälle, der gesundheitlichen und psychischen Leiden ist das minimal und schäbig. Die Opferorganisationen haben 2013 den Betrag von 120 000 Franken pro Opfer verlangt. Ich hoffe sehr, dass sich Parlamentsmitglieder der Linken und der Mitteparteien finden, welche diese tiefe Obergrenze aufheben. Sonst geht ein grosser Teil der kommunizierten Summe an den Bund zurück, obwohl dieser ja einen Budgetüberschuss hat. Dies im immer wahrscheinlicheren Fall, dass sich weniger Opfer melden als geschätzt. Sei es, weil die Erinnerung zu schmerzlich ist, um sie für 25 000 Franken wieder aufzuwühlen, oder weil eben viele – schon längst oder erst kürzlich – verstorben sind. Seit 2013 vergingen auch schon wieder vier Jahre; erste Auszahlungen sollen erst 2018 erfolgen. Es dauert also nochmals fünf Jahre nach der Entschuldigung. Die Bankenrettung 2008 war teurer und ging schneller! Eigentlich hätte eine ordentliche Entschädigung bereits 1981 erfolgen sollen, als die einschlägigen Gesetze wegen Menschenrechtswidrigkeit aufgehoben wurden.
Ich plädiere dringend für die volle und schnellstmögliche Auszahlung der ganzen 300 Millionen an die Betroffenen, unter Abschaffung der Obergrenze. Sonst wird einmal mehr an diesen Menschen gespart.

Das Interview führte Julian Büchler.