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Interview mit Urs Kaltenrieder

Urs Kaltenrieder

Der Verein netzwerk–verdingt konnte am 15. Mai 2012 das Jugendhilfe-Netzwerk Integration in Eggiwil besuchen, sich über die Entstehung, die Idee dahinter und seinen Modellcharakter für eine zeitgemässe Fremdplatzierung im Detail informieren. Dazu kamen wichtige Gespräche mit Fachmitarbeitenden, einer Partnerfamilie und ihrem Pflegekind D.

netzwerk-verdingt: Du warst selber Pflegekind einer Bauernfamilie in Trachselwald im Emmental. Gab das den Ausschlag, dass Du nach der Lehre als Dachdecker deine berufliche Laufbahn in die Jugendhilfe verlegt hast?

Urs Kaltenrieder: Den Ausschlag nicht, aber sicher ein bestimmender Grund. Von meiner Pflegefamilie wurde ich gut und liebevoll behandelt. Trotzdem erlebte ich meine Fremdplatzierung als tiefen und schmerzhaften Einschnitt in meine Kindheit. Alle schwierigen Jugenderfahrungen haben dazu beigetragen, dass ich mich nach dem Abschluss der Offiziersschule weiterbilden wollte.

n-v.: Später hast Du noch eine weitere Berufsausbildung abgeschlossen. Was hat Dich bewogen eine neue Form der Fremdplatzierung im Rahmen eines regional verankerten und multisystemisches Jugendhilfe-Netzwerks im Emmental zu konzipieren und zu realisieren?

U.K.: Mit der zunehmenden Professionalisierung und Spezialisierung in der ambulanten und stationären Jugendhilfe sollte die Angebotsqualität verbessert werden, was tatsächlich vordergründig auch geschah. Im Hintergrund bestimmten zunehmend von der Industrie hergeleitete ökonomische Standards die Arbeit in der Jugendhilfe. Die forcierte Akademisierung der Sozialarbeit und Sozialpädagogik führte zwar zu besseren Arbeitsbedingungen in diesen Fachbereichen (Gehaltserhöhungen, regelmässige Arbeitszeiten etc.). Gleichzeitig verminderte sich paradoxerweise deren Tragfähigkeit. Um diese Defizite zu kompensieren, wurden von Jugendämtern und Heimen bei Bauernfamilien Timeouts-Plätze geschaffen. Innert weniger Jahre entstand durch die zahlreichen Familienplatzierungsorganisationen eine neue Branche in der Jugendhilfe, welche heute jährlich in der Schweiz mehr als 200 Mio. umsetzt. Kinder und Jugendliche werden auch noch heute durch staatlich nicht beaufsichtigte Organisationen im In- und Ausland zu Bauernfamilien vermittelt. Dieser gefährlichen Entwicklung in Richtung „Neues Verdingkinderwesen“ wollten wir mit dem Pilotprojekt Jugendhilfe-Netzwerk Integration begegnen. Heute wird unsere systemkritische Haltung gegenüber der traditionellen Jugendhilfe durch eine Studie von Curaviva gestützt. Die Experten der Fachhochschule Bern stellten fest, dass das gegenwärtige System der Jugend- und Familienhilfe in der Schweiz auf einem Konstruktionsfehler gründe und deshalb ein grundlegender Paradigmenwechsel in der Jugend- und Familienhilfe notwendig sei.

n-v.: Welche Gründe führten im Jugendhilfe-Netzwerk Integration bei der Platzierung von Kindern zum Erfolg?

U.K.: Dr. med. Peter Frey, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie fand bei einer Untersuchung 15 Erfolgsfaktoren heraus. Ein zentraler Erfolgsfaktor im Jugendhilfe-Netzwerk Integration ist die höhere Betreuungs- und Beziehungskonstanz, welche diese speziellen Pflegefamilien gewährleisten können. Kinder und Jugendliche welche in den stationären Einrichtungen aufwachsen müssen pro Tag mit zwei Schichtwechseln bei ihren Betreuenden umgehen. Die durchschnittliche Anstellungszeit von Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen in einem Heim beträgt ca. 1,5 Jahre, in einer Pflegefamilie bleiben die Bezugspersonen über viele Jahre konstant. Hinzu kommt, dass die Kinder bei Bedarf die betriebseigene Tagesschule besuchen können, wo sie nach individuellen und heilpädagogisch orientierten Förderplänen unterrichtet werden. Ein entscheidender Erfolgsfaktor ist die hohe soziale Kontrolle, welche durch die regionale Verankerung möglich wird.

n-v.: Dass dieses Modell ausgerechnet im Emmental mit seiner schlimmen Verdingkindergeschichte zustande kam, ist ja schon erstaunlich. Wie kam es dazu?

U.K.: Wie bereits erwähnt konnte ich selber erleben, was es heisst, bei einer liebenswürdigen Bauernfamilie im Emmental als fremdplatziertes Kind aufzuwachsen. 1992 gründete ich ein Unternehmen für nachhaltige Organisations-, Gemeinde- und Regionalentwicklung, in enger Zusammenarbeit mit dem Jugendamt des Kantons Bern und dem Gemeinderat Eggiwil. Nach einer mehrjährigen Entwicklungsphase begannen wir 1998 dieses Pilotprojekt umzusetzen. Begreiflicherweise machten sich damals viele Menschen Sorgen, dass mit unserem Projekt eine neue Form des Verdingkinderwesens entstehen könnte. Diese begründete Skepsis, konnten wir nur mit vertrauensbildenden Massnahmen überwinden. Die Fachzeitschrift Netz der Pflegekinderaktion Schweiz widmete dem "Pilotprojekt Integration" eine ganze Ausgabe und stellte u.a. fest, dass das Qualifikationsverfahren der Partnerfamilien und die dichte und zeitnahe fachliche Begleitung Schweiz weit einzigartig sind.

Interview: Walter Zwahlen

Kurzportrait des Jugendhilfe-Netzwerks Integration:

Leitbild:

Im Jugendhilfe-Netzwerk Integration platzierte Kinder sollen an einem Ort leben, an dem sie sich wohl und geborgen fühlen und an dem sie sich ihren Bedürfnissen und Möglichkeiten entsprechend entwickeln können. Sie sollen heute und in Zukunft ein möglichst eigenständiges und erfülltes Leben führen können.

Grundwerte:
• Im Jugendhilfe-Netzwerk Integration stehen die platzierten Kinder im Zentrum. Vor jedem anstehenden Entscheid wird überprüft, was dazu dient, das oberste Ziel des Leitbildes zu erreichen.
• Die Handlungen und Verhaltensweisen aller Mitarbeitenden werden gemeinsam reflektiert und den Bedürfnissen der platzierten Kinder angepasst.
• Der Umgang untereinander ist von Respekt und gegenseitiger Wertschätzung geprägt. Die Bereitschaft, gemeinsam durch schöne und schwierige Situationen zu gehen, ist jederzeit vorhanden.
• Der Umgang mit jeglichen Ressourcen ist nachhaltig und sorgsam.

Ziele:
• Entwicklung von qualifizierten Familienplatzierungsangeboten mit integrativen Modellen der Bereiche Volks- und Sonderschule.
• Entwicklung von neuen und nachhaltigen Arbeitsplätzen in einer vom wirtschaftlichen Strukturwandel stark betroffenen Gemeinde, bzw. Region.
• Entwicklung einer neuen Qualität in den Beziehungen zwischen „Stadt“ und „Land“

Konzept:
• Kinder und Jugendliche mit besonderen Entwicklungs- und Bildungsbedürfnissen sollen im Jugendhilfe-Netzwerk Integration unter möglichst natürlichen und gesunden Lebensbedingungen leben und aufwachsen können.
• Das Entwicklungs- und Bildungsverständnis im Jugendhilfe-Netzwerk Integration ist ganzheitlich. Es basiert auf der allgemeinen Systemtheorie, speziell auf familien-, milieu- und systemtherapeutischen Ansätzen.
• Betreuung und Erziehung der Kinder und Jugendlichen im Alter zwischen 2 und 14 Jahren erfolgen in dafür qualifizierten Partnerfamilien.
• Als Bildungseinrichtungen stehen die interne Tagesschule sowie die öffentlichen Dorfschulen der Partnergemeinden und spezialisierte Partnerlehrbetriebe im Emmental und im Entlebuch zur Verfügung.
• Die Fach- und Geschäftsstelle konzipiert, koordiniert, leitet und begleitet die verschiedenen Entwicklungsprozesse in Familie, Schule und Berufslehre. Sie ist rund um die Uhr einsatzfähig. Siehe auch: www.jugendhilfe-integration.ch

Persönliche Kurzbiografie:

1947 wurde ich im Seeland in einer Kleinbauernfamilie als jüngstes von drei Kindern geboren. Vorausschicken muss ich an dieser Stelle, dass ich rund 40 Jahre brauchte, bis ich über mein Pflegekinderschicksal öffentlich reden konnte. Früher schämte ich mich darüber zu reden und verstummte, wenn dieses Thema angesprochen wurde. Ich war ja ein „Abnormaler“. Auf meiner beruflichen Laufbahn im psychosozialen Bereich erkannte ich, dass es für die berufliche Weiterentwicklung nicht förderlich ist, über dieses Kapitel der eigenen Biografie zu sprechen. In Fachkonferenzen erlebte ich hautnah, wie z.T. distanziert und wirklichkeitsfern über Verding- und Pflegekinderbiografien gedacht und gesprochen wurde. Erst in der letzten Phase meiner beruflichen Laufbahn im Jahr 2004 redete ich öffentlich anlässlich meiner Laudatio zur Ausstellung zum Verdingkinderwesen in Langnau über meine Zeit als Pflegekind im Emmental.

Meine Kindheit wurde von schweren Schicksalsschlägen geprägt. Als ich neun Jahre alt war, starb meine Mutter. Zum Vater konnte ich als Kind keine vertrauensvolle Beziehung eingehen. Die Stiefmutter und ich konnten uns schlecht vertragen. In der Schule zeigten sich bald erste Konzentrationsstörungen und Leistungsabfälle und ich wurde als verhaltensauffällig wahrgenommen. Die psychische Belastung äusserte sich in einer Entwicklungskrise, welche schliesslich zu einer Fremdplatzierung führte. Meine Zeit im Emmental wurde rückblickend gesehen zur schönsten Zeit meiner Kindheit. Bei einem kinderlosen Bauern-Ehepaar, direkt unter dem Schloss Trachselwald, bekam ich all das, was ein Kind braucht. Mein Lebensweg erfuhr durch diese positive Erfahrung eine nachhaltige Wende.

Nach dem Schulabschluss absolvierte ich in Interlaken eine Dachdeckerlehre. Bereits am 1. Tag der Lehre wurde mir klar, dass ich noch nicht den Beruf für’s Leben gefunden hatte. Am Nachmittag stürzte ein Arbeiter tödlich ab. Nach dem Abverdienen des Leutnants wechselte ich 1969 in die Jugendhilfe. Während meiner Grundausbildung in Basel lernte ich Sergio Devecchi als faszinierende und unkonventionelle Persönlichkeit kennen. Es dauerte über vierzig Jahre, bis wir voneinander erfahren haben, dass wir beide sogenannte „Betroffene“ sind.

Der berufliche Werdegang führte durch die meisten Bereiche der stationären und ambulanten Jugendhilfe. Zuerst leitete ich ein Lehrlingswohnheim. Anschliessend leitete ich mehrere Jahre eine regionale Jugend- und Familienberatungsstelle. Nach meiner Ausbildung am Institut für Ehe und Familie und am Institut für Systemtherapie Oberwallis arbeitete ich als Familien- und Systemtherapeut auf einem Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst. Während dieser Zeit engagierte ich mich als Zürcher-Kantonsrat in der Politik. 1990 wurde ich von der Swissair in die Abteilung Personalentwicklung berufen. Wegen einer politischen Intervention kündigte mir die Geschäftsleitung, bevor ich die Stelle überhaupt antreten konnte. Diese Intervention und die Teilnahme an einer unbewilligten Demonstration trugen mir eine Strafanzeige wegen Landesfriedensbruch durch einen Gemeinderat ein. Nach drei Monaten wurde das Verfahren von der Staatsanwaltschaft mit der Begründung eingestellt, dass dank meiner entschiedenen Intervention eine blutige Auseinandersetzung zwischen zwei verfeindeten Gruppen habe verhindert werden können. Nach Abschluss des Strafverfahrens gründete ich im Herbst 1990 ein Unternehmen für Projekt- und Organisationsentwicklung sowie Systemische Gemeinde- und Regionalentwicklung. 1996 begannen wir zusammen mit der Gemeinde Eggiwil die Idee des Jugendhilfe-Netzwerks umzusetzen.

Eggiwil, 27. August 2012