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Die Lüge Kindswohl

Kindswohl

Kindswohl ist nach Liebe das am meisten missbrauchte Wort. Allein der Status der Armut genügte, um Eltern von vorneherein als nicht erziehungsmächtig einzustufen. In der bürgerlich dominierten Gesellschaft waren sie die Parias. Armut, oder was nach Verwahrlosung aussah, wurde zum Deckmäntelchen für die Kindswegnahme. Heimeinweisung oder Verdingung konnten blind als angeblich bessere Alternative gegenüber dem weiteren Verbleib in der Herkunftsfamilie erzwungen werden. Aufsichtspflicht und Kontrolle über die Pflegeeltern und Heime fehlten fast vollständig. Gewalt gegenüber Zöglingen nahm man ohne Bedenken in Kauf. Als ob durch Gewalt jemand zu einem besseren Menschen würde. Völlig schizophren auch der damalige Zeitgeist, Sklavenarbeit und körperliche Züchtigung seien dem Kindswohl förderlich. Ausbeutung als Losung, die Mündel zu brauchbaren Mitgliedern der Gesellschaft zu machen. Die Betroffenen berichten fast ausnahmslos, dass sie durch die Zwangsmassnahmen noch tiefer ins Elend und in die Isolation versetzt wurden. Der Begriff Kindswohl wurde im Bezug auf die zwangsweise Fremdplatzierung weder je definiert noch kritisch hinterfragt. Dem Missbrauch war damit Tür und Tor geöffnet. Alternativen waren sowieso tabu. Und wenn es an einem Pflegeplatz nicht ging, schob man das Mündel weiter zum nächsten. Manche Ehemalige berichten von über 20 willkürlich gewählten Stationen. Statt einer Verbesserung kam es in den meisten Fällen zu einer Verschlimmerung. Besonders verfolgt wurden bis in die 1960er Jahre die Jenischen durch das Hilfswerk der Pro Juventute „Kinder der Landstrasse. Kindswohl beinhaltet ja eigentlich zum Wohl des Kindes. Von Seiten der Vormünder, der Heimleiter, der Erzieher und der Pflegeeltern müsste deshalb ja eigentlich das Wohlergehen der Kinder im Vordergrund gestanden haben. Die Kinder und ihre leiblichen Eltern hätten erwarten dürfen, dass die für die Fremdplatzierung verantwortlichen Personen ihren Schützlingen mit Wohlwollen begegnen. Leider war das Gegenteil die Norm. Und ist es heute wirklich so viel besser?

Teufelskreis Prekariat
Kinder und Jugendliche wurden durch völlig überforderte Amtstellen, Vormünder, Pflegeeltern, Heimleiter und Erzieher überfordert. Ihre sonst schon prekäre Situation grösstenteils ignoriert. Es ging überhaupt nicht darum, ihnen nur irgendwie gerecht zu werden. Vielmehr wurden sie in vielerlei Lebensbelangen und auf lange Sicht massiv beeinträchtigt. Dazu kam, dass sie für die prekäre Situation und das Elend der Eltern als Unschuldige büssen mussten.

Zynisch und pervers
Kindswohl war eine leere Floskel. Vor der brutalen Realität verschloss man die Augen. Wenn der Begriff in der Praxis etwas gegolten hätte, wäre es nie soweit gekommen, dass die extrem wichtige Grundbedingung für das Gedeihen der Kinder, die Schadensbegrenzung, fast vollständig ignoriert wurde. Ausbeutung, ständige Überforderung, Stigmatisierung, Hunger, Kälte, Isolation, Gewalt und eine Vielzahl weiterer Traumatisierungen zeigen die damals gültigen zynischen und perversen Erziehungsmassstäbe.

Hauptsache: Dossier vom Tisch
Den Amtsstellen ging es in erster Linie darum, ein weiteres Dossier vom Tisch zu haben und die finanzielle Belastung klein zu halten. Eine individuelle kindgerechte Lösung war kaum je im Fokus. Kam nichts dazwischen, dann war neben der Überweisung des Kostgelds das Motto bis zur Ende der Schulpflicht: versorgt und vergessen. Mitgefühl, Verantwortungsbewusstsein und Kindswohl stets ausserhalb des jeweiligen Gesichtskreises angesiedelt. Bei den einzelnen Gemeinden galt als wichtigstes Kriterium die möglichst günstige Platzierung.

Akten als Bühne für infame Einträge
Was in den individuellen Dossiers der Fremdplatzierten steht, ist meistens Ausdruck eines miesen Zeitgeistes. Die Kinder wurden als verworfene Subjekte gezeigt, denen man alles und jedes zutraute, sie grundlos verdächtigte und anklagte. Man bezichtigte sie der Lüge, des Diebstahls, der Arbeitsscheu und nicht bildungsfähig zu sein. Diese Buchstabenverbrechen holen sie heute bei der Akteneinsicht wieder ein.

Die typisch schweizerische Mühe mit dem Menschenrecht
Bis 1981 waren Menschenrechte für die offizielle Schweiz eine unerforschte, ferne, möglicherweise sogar eine fiktive Galaxie. Nicht zu verwundern, dass Strassburg seither die Schweiz wiederholt und zahlenmässig gegenüber anderen europäischen Staaten deutlich häufiger wegen solcher Vergehen rügen musste.

Schadensbegrenzung nahezu inexistent
Mit nur ein wenig Menschenverstand hätten die zuständigen Behörden, die Vormünder, die Pflegeeltern und die Heimverantwortlichen diese Forderung in erster Linie garantieren und umsetzen müssen. Die Praxis bewies das genaue Gegenteil, dass die Zöglinge fast ausschliesslich geschädigt wurden, war ihnen egal.

Fremdplatzierung heute: Die Krankheit Professionalisierungswahn
Heute heisst die ebenso schizophrene „Heilsbotschaft“ Professionalisierung. Die Übertragung der Vormundschaft von den Gemeinden auf die Kantone (neu: Kinder- und Erwachsenenschutzbehürde KESB) glänzt mit riesigen Mängeln bei der Umsetzung wie ungenügende Fachkenntnis, Ausbildung, Personalmangel, Überforderung, Dossierfülle. Dazu kommt die rund 90%ige Platzierung durch private Unternehmen, die weder zertifiziert sind, noch adäquat überwacht werden, aber vom Pflegeplatznotstand profitierend lukrative Geschäfte machen. Das Feigenblatt Kindswohl bleibt nach wie vor ein Gummibegriff. Die Fremdplatzierung ist mehrheitlich immer noch ein traumatisches Erlebnis für das einzelne Kind. Professionell verwaltet können Akten werden. Kinder brauchen primär Vertrauen, Mitgefühl, Begleitung, Förderung und Schutz. Dies bedingt einen sehr hohen Kompetenzgrad und Fingerspitzengefühl.

Dem Verein netzwerk-verdingt wurden in den letzten 1 ½ Jahren mehrfach Fälle von gravierendem Versagen der zuständigen Behörden signalisiert. Auch solche, welche zeigen, dass die administrative zwangsweise Versorgung trotz Verbot von 1981 illegal weiter praktiziert wird, dass staatliche Willkür, Mobbing, Rechtsverweigerung und Traumatisierung von Kindern ohne jegliche Kontrolle fortbesteht. Die hochgelobte Professionalisierung mit der Reform des Kinder- und Erwachsenenschutzes von den Gemeinden weg zu den Kantonen mündet darin, dass sich diese in professioneller Überforderung, Elendverstärkung, Ignoranz, Inkompetenz, Unvernunft und Konfusion beweist. Das Kindswohl wird leider weiter in keiner Weise je in Betracht gezogen. Eltern oder Elternteile beschuldigt, stigmatisiert, legitime Auskunftsbegehren mehrfach abgeschmettert, die Rechtsunsicherheit verstärkt, fadenscheinige Argumente für die Kindswegnahme missbraucht. Eine unabhängige Ombudsstelle zu schaffen, welche über die nötigen Instrumente verfügt, um solchen Menschenrechtsverletzungen einen Riegel zu schieben, effiziente Kontrollorgane zu verlangen und eine menschenwürdige , zeitgemässe Rechtshilfe zu ermöglichen, ist längst überfällig.

Das dritte Licht
Das Buch „Das dritte Licht“ von Claire Keegan, erschienen im Steidl Verlag, ist ein einmaliges Zeugnis, einem Pflegekind anders zu begegnen und sich vom Kindswohl leiten zu lassen.

An einem heissen Sommertag, gleich nach der Frühmesse, liefert ein Vater seine älteste Tochter bei entfernten Verwandten, dem kinderlosen Ehepaar John und Edna Kinsella auf einer Farm im irischen Wexford ab. Seine Frau ist schon wieder schwanger, noch ein Maul wird zu stopfen sein. Nachdem der Vater „sich satt gegessen hat“, fährt er wieder ab, ohne seiner Tochter zu sagen, wie lange sie bei den Kinsellas bleiben wird. Sollen die kinderlosen Kinsellas die Kleine also ruhig so lange dabehalten, wie sie wollen. Schon bald erkennt das Mädchen instinktiv, dass das hier „ein anderes Zuhause“ ist. „Hier gibt es Raum und Zeit zum Denken. Vielleicht bleibt sogar Geld übrig.“ In den folgenden Monaten, die das Kind mit den Kinsellas auf ihrer Farm verbringt, weicht seine Unsicherheit, und es erfährt Geborgenheit, Zuwendung und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit. Aber das Mädchen erfährt auch das traurige Geheimnis, das die Kinsellas für sich behalten und ein Licht darauf werfen könnte, warum es den Sommer gerade bei diesen ihm fremden Menschen verbringt. "Das dritte Licht" ist eine kleine, grosse Geschichte darüber, was ein Kind zum Leben braucht. Die Erzählung endet mit einem einzigen Wort, das nicht nur die Entbehrungen des Mädchens in der eigenen Familie im Besonderen, sondern die Abhängigkeit des kindlichen Daseins von erwachsener Liebe im Allgemeinen auf Eindringlichste fühlbar macht.

Walter Zwahlen