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Der Mann, der sein Gedächtnis verlor, Kuno Kruse, Hoffmann und Campe Verlag, 2010

Jonathan Overfeld fand sich eines Tages auf einer Bank in Hamburg und wusste nicht, wo er war und wer er war. Alle seine Erinnerungen sind weg. Ein Aufruf in den Medien ergibt, dass er in Berlin wohnhaft ist. Auf der langjährigen Suche nach seiner Vergangenheit kommt die von extremer Gewalt und Vergewaltigung geprägte Kindheit in Pflegefamilien, als Verdingkind und in katholischen Heimen in Deutschland ans Licht. Das Buch ist eindrückliches und zugleich erschreckendes Dokument eines furchtbaren Zeitgeistes und einer verlogenen Moral. Es zeigt die Auswüchse einer gewaltbesetzten, gewaltbelasteten und gewaltfixierten Gesellschaft, die sich in erschreckender Weise an Kindern vergriff. Das Buch ist ein einzigartiges Zeugnis über Fremdplatzierung und ein Erziehungsmodell, das Züchtigung, Strafe und sexuelle Ausbeutung von Kindern als normal befand.

Der Mann, der sein Gedächtnis verlor

In dieser völligen Orientierungslosigkeit bekommt Jonathan Panik. Herzrasen, Atemnot, Schweissausbrüche. Er wusste nicht mehr, wer er ist. Er wusste auch nicht, wo er ist. Er wusste überhaupt nichts mehr. In ihm war nur Leere. «Diese ersten Minuten», sagte er später, «waren die schlimmsten, die ein Mensch erleben kann. Später taumelte er durch die ihm vollkommen fremde Stadt. «Suchen Sie etwas?», spricht eine besorgte Passantin den verwirrten Mann an. «Ja», sagt er, «ich suche mich selbst.».

Noch am selben Tag, dem 12. April 2005, wurde er ins Spital eingeliefert. Der Drogentest war negativ. Er hatte weder einen Hirnschlag, einen epileptischen Anfall noch eine Kopfverletzung erlitten. EKG und Blutwerte waren normal. Also ein Fall für die Psychiatrie. Dort hörte er zum ersten Mal das Wort: Fugue – Flucht. Fugue-Patienten flüchten nicht nur ins Vergessen, so erklärte ihm der Arzt. Auslöser einer solchen Amnesie sei Ausweglosigkeit, unerträgliche Angst, Panik. Es ist ein extrem seltenes Krankheitsbild, das nur wenige Psychiater jemals zu Gesicht bekommen.

Bald erschien ein Aufruf in der Lokalzeitung «Hamburger Morgenpost». «Wer kennt diesen Mann?» stand unter seinem Foto. Niemand meldete sich. Doch in Berlin hatte eine Frau eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Alter und Beschreibung passten, bis in die Details. Der Name des Verschwundenen ist Heinz-Jürgen Overfeld, genannt Jonathan. Endlich hatte er einen Namen und wusste nun auch, woher er kommt. Die Leere aber blieib. Weil die behandelnden Ärzte nicht weiter wussten, verlegten sie ihn in eine Klinik in Berlin. Freunde tauchten auf. Doch egal, wie sehr Overfeld sich anstrengte, es nützte nichts. Das Wiedererkennen dieser Personen blieib ihm versagt. Sein Denken war blockiert. Er blieb sich selber fremd.

Heute ist Jonathan Overfeld 59 Jahre alt. Die Ereignisse von damals sind sechs Jahre her. Inzwischen hat er Einiges über sich herausgefunden. Über dreissig Jahre lang lebte er nur mit Kartonschachteln um sich. 62-mal ist er umgezogen. Das hat er mühsam recherchiert, wie ein Privatdetektiv, der sich selbst hinterherschnüffelt. Die vielen Umzüge zeigen jahrelang immer irgendwie auf der Flucht war. Auf der Flucht vor den schrecklichen Erinnerungen seiner Kindheit. Einige Wochen schon ist er in der Berliner Klinik, da setzt er sich eines Tages im Aufenthaltsraum ans Klavier. Er hebt den Deckel und legt die Finger auf die Tasten. Das Präludium C-Dur des ersten Teils des «Wohltemperierten Klaviers» von Johann Sebastian Bach erklingt. Die Musik ist einfach da, in seinen Händen, er braucht keine Noten. Fasziniert lauschen ihm einige Mitpatienten und Schwestern. Doch als der Applaus einsetzt, blickt Jonathan Overfeld in einen Abgrund.

Erst ist da ein Gefühl: Abscheu, Ekel. Dann steigen Bilder in ihm auf. Er sieht sich selbst als Bub mit blonden Locken an einem weissen Flügel sitzen, in einem grossen Haus an der Nordsee. Da sind eine Dame und zwei Herren, die ihm Sekt einflössen. Dann soll er sich ausziehen, und auch die Frau ist plötzlich nackt. Jonathan versteht nicht, was von ihm verlangt wird. Da droht der eine Mann, ihm den Finger abzuschneiden, wenn er nicht willig ist … Jonathan Overfeld schlägt das Klavier zu und rennt völlig ausser sich über den Stationsgang. Der Arzt muss ihm ein Medikament spritzen, zur Beruhigung.

Es ist typisch, dass ausgerechnet das Klavierspiel eine Pforte zu seiner Vergangenheit geöffnet hat. Trigger nennt die Hirnforschung solche Türöffner verschütteter Erinnerungen. Für Jonathan Overfeld gibt es ohne Vergangenheit auch keine Gegenwart. Nachdem die Illusion, seine Biografie erfinden zu können, geplatzt ist, verkriecht er sich in seiner Wohnung oder streift ziellos umher, in ständiger Angst, dass ihn jemand erkennen könnte. Er will nicht von Menschen angesprochen werden, die etwas über ihn wissen, was er nicht weiss. Wenn ihm jeder fremd ist, so will auch er allen fremd sein. An Arbeit ist nicht zu denken. Fragen, selbst jene von Unbekannten, versetzen ihn in Panik. Nachts wird er von Schlaflosigkeit gequält, denn seine Seele wagt es nicht, sich Träumen hinzugeben. Immer mutloser, immer dünnhäutiger und einsamer wird er. In seiner jetzigen Wohnung stehen goldene Putten. Für Overfeld haben sie grosse Bedeutung. Jede von ihnen repräsentiert einen der Menschen, die ihm aus der grössten Krise seines Lebens herausgeholfen haben. Für den Clochard, der ihn im letzten Moment auf dem S-Bahn-Perron vor dem Suizid rettete, gibt es einen solchen Engel. Ein anderer steht für den Psychologen Kai-Uwe Christoph, der ihn lange während der Aufarbeitung begleitet hat. Ein weiterer für den Journalisten Kuno Kruse, der ihn dabei unterstützte, die Abgründe seiner Vergangenheit auszuleuchten – anfangs aus journalistischem Interesse, dann auch aus Freundschaft.

Auch für Hans Markowitsch, Professor für Physiologische Psychologie an der Universität Bielefeld. Er gehört zu den renommiertesten Hirnforschern Deutschlands. Markowitsch hat mehr als dreissig Amnesiepatienten untersucht, die ihr Gedächtnis aus psychischen Gründen verloren haben. Sie alle zeigten Hirnschäden, wie sie sonst nur nach Unfällen vorkommen. Hans Markowitsch macht mit Jonathan Overfeld sogenannte Lügendetektionstests, die auch Gerichtsgutachter nutzen, um falsche Aussagen zu entlarven. Overfeld besteht sie alle. Dann schickt der Hirnforscher seinen Patienten ins Kölner Max-Planck-Institut, wo sein Gehirn von einem Positronen-Emissions-Tomografen durchleuchtet wird. Dort, wo das biografische Gedächtnis lokalisierbar ist, hat die Aufnahme eine dunkelblaue, fast violette Farbe. Das bedeutet: keinerlei Aktivität. Die biochemischen Prozesse in diesem Teil des Gehirns stehen still. Nun weiss der Hirnforscher mit Sicherheit: Jonathan Overfeld ist kein Simulant. Fast alle Amnesiepatienten, die Hans Markowitsch untersucht hat, haben etwas gemeinsam: eine Kindheit voller Gewalt und Erniedrigung. Nur 15 Prozent von ihnen haben ihr Gedächtnis wiedererlangt. Die Amnesie von Jonathan Overfeldt wurde durch jahrelange körperliche Gewalt, Diffamierung, Ausbeutung und sexuelle Übergriffe während der Fremdplatzierung in der Kindheit ausgelöst. Was er dort erlebte, waren Folter und folterähnliche Zustände. Über Jahrzehnt hat er diesen Alptraum erfolgreich zu verdrängen gewusst.

Text teilweise aus der Annabelle 9/2011 von Claudia Senn, ergänzt und bearbeitet von Walter Zwahlen