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Lebenswelten von Heim- und Verdingkindern vor 1950

Lebenswelten

Armut, Wirtschaftskrisen, zwei Weltkriege, ein für die Mehrheit der Bevölkerung sehr bescheidenes Lebensniveau prägten die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Was dies im Einzelnen bedeutete ist vielen heutigen Menschen kaum mehr bewusst. Die nachfolgenden Facts sind das Ergebnis einer Mitgliederumfrage. Es sind Alltagsrealitäten, die wenige Jahrzehnte zurückliegen, aber uns mit dem Vergleich des heutigen Lebensstandards zum Nachdenken anregen könnten.

Wasser:
Im Innern der Bauernhäuser gab es nur in Einzelfällen Wasser. Der Brunnen diente Mensch und Tier als Wasserspender. Insbesondere Warmwasser war in Bauernbetrieben in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch vielerorts Luxus. Das nötige Warmwasser vor allem für die Küche wurde meist noch auf dem Holzherd im Schiff gemacht. Auch Badewannen oder Dusche waren äusserst selten. In Kinderheimen gab es manchmal Grossduschen, welche zu allerhand Bosheiten seitens der Erzieher missbraucht wurden.
Hygiene: Kaltes Wasser ab der Brunnenröhre oder an langen Email- oder Chromstahltrögen in Kinderheimen für die Katzenwäsche oder zum Zähneputzen.
WC:
Das Plumpsklo draussen galt lange als Norm. In Kinderheimen waren WCs nach Geschlechtern getrennt und lange ungeheizt.
Strom/Licht:
Nur vereinzelt gab es Strom. Seltener nur im Stall, aber Kerzen oder Petroleumlicht waren eher die Ausnahme.
Kleider/Schuhe: Punkto Qualität, Alter und Passform, war die Armut klar erkennbar. Abgetragen, aus zweiter Hand, zu klein, zu knapp oder zu gross. Warme Kleider für die damals noch strengen Winter gab es kaum. Im Sommer liefen viele Kinder barfuss. Die Schuhe wurden von den Grösseren den Kleineren weitergereicht, deshalb waren sie entweder zu gross oder zu klein. Lange Zeit gab es nur Holzschuhe, in denen man im Winter fror, weil auch an Strümpfen gespart wurde. Die von Paten gespendeten oder von der Vormundschaft eingebrachten Kleidern sahen die Begünstigten nur in den wenigsten Fällen und erfuhren davon erst als Erwachsene.
Hunger: Das Essen war meistens einfach. Für Kinder im Wachstumsprozess und angesichts der physischen Ausbeutung sicher ungenügend. Einzelne waren schlimmer dran als die Tiere auf dem Hof. Ein Essensentzug war eine gängige Strafmassnahme.
Gewalt/Strafen: Prügel für scheinbare oder wirkliche Taten, gab es unbedacht. Jähzornige Bauersleute, Knechte oder Erzieher hatten ebenfalls freie Hand. Bis hin zu Waterboarding. Natürlich war auch sexuelle Gewalt präsent. Einsperren im Keller, Estrich oder in einem Nebengebäude dienten der Einschüchterung. Manche dieser Strafen gelten gemäss der Menschenrechtskommission heute als Foltermethoden. Nur Wenige erlitten keine oder kaum Gewalt auf dem Hof oder im Heim.
Arbeit/Ausbeutung: Verdingkinder sowieso und vielfach auch Heimkinder wurden durch eine täglich lange Arbeitszeit nicht nur altersmässig überfordert, sondern schlicht ausgebeutet. Schonung war ein Fremdwort. Geld für die zum Teil enorme Arbeitsleitung gab es nicht. Und Dank dafür noch weniger.
Freizeit: Wenn es hoch kam, vielleicht am Sonntagnachmittag einige wenige Stunden.
Geld: Von der Vormundschaft erhielten die Bauern und Heime ein Kostgeld. Das Kind selber bekam nichts. Einzelne konnten sich auf dem Lande wenige Batzen beim Kegelstellen ergattern.
Kontakte: Die Kontakte beschränkten sich meist auf das Arbeits-, Schul- und Wohnumfeld. Diejenigen mit der Familie, den Geschwistern und den Behörden wurden bewusst vereitelt.
Schutz: Fremdplatzierte Kinder waren generell ungeschützt. Schuldige und Sündenböcke sowieso. Kaum jemand stand für ihr Wohlergehen ein oder nahm ihr Schutzbedürfnis ernst.
Medizinische Hilfeleistung: Nur die wenigsten hatten Zugang zu Prävention, zu ärztlicher oder zahnärztlicher Hilfeleistung.

Text: Walter Zwahlen nach einem Fragebogen vom Oktober 2021.