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Interview mit Fredi Lerch, Journalist und Autor

Jeremias Gotthelf

Engagierte Journalisten sind in der Schweiz dünn gesät. Fredi Lerch verfolgt die dunklen Flecken der Sozialgeschichte unseres Landes konsequent seit 30 Jahren. Netzwerk-verdingt wollte wissen, was er dazu zu sagen hat.

netzwerk-verdingt: Dein Grossvater war Verdingkind im Emmental und Luzerner Hinterland. Du hast Dich als Enkel und Journalist für dessen problematische Kindheit interessiert. War dies dein Einstieg ins Thema Verdingkinder?
Fredi Lerch: Der Einstieg ins Thema erfolgte, weil ich bereits als Kind mitbekommen habe, dass mein Grossvater Verdingkind gewesen war. Er selber hat mir zwar nie etwas davon erzählt. Das Ganze hatte etwas Geheimnisvolles, da meine Eltern nur Andeutungen darüber machten. 1982 wurde ich dann Redaktor bei der WOZ und durch diese Arbeit mit Mariella Mehr bekannt. Ich lernte sie als Autorin und engagierte Betroffene der „Kinder der Landstrasse“ kennen. Bei der Aufarbeitung der Geschichte des Hilfswerks der Pro Juventute kam ich dann auch mit dem Historiker Thomas Huonker in Kontakt. Damit war ich wieder bei der Verdingkinderthematik. Die erste Pressekampagne zu den Jenischen führte 1972 der „Beobachter“. Mitte der 1980er Jahre erfolgte eine zweite in der Medienlandschaft. Das führte dann 1986 zur offiziellen Entschuldigung durch Bundesrat Egli.

n-v.:Du bist dem Thema bis heute treu geblieben. Was ist der Grund dafür?
F.L.: Als Journalist hatte ich immer Interesse an der andern Schweiz. Nicht der konformistischen. Es gab Dissidente und Schriftsteller, welche unter der Etikette Nonkonformismus liefen. Das waren Oppositionelle, die nach dem Zweiten Weltkrieg die damals enge, rigide Schweiz öffnen wollten. Ich habe in den neunziger Jahren 2 Bücher zum Thema Nonkonformismus in den 1950er und 1960er Jahren geschrieben. In dieser Zeit lernte ich auch zwei ehemalige Administrativ-Versorgte kennen, die in Witzwil gewesen waren. So war ich erneut im Thema. Dabei wurde mir bewusst, welch unheilvolle Rolle die institutionelle Psychiatrie manchmal im Zusammenhang mit Versorgungen gespielt hat. Ich habe begriffen, dass Verdingte und Administrativ-Versorgte Teil eines Gesamtsystems bilden, erzwungen durch einen Klassenkampf von oben mit schlimmen Konsequenzen für die Betroffenen. Diese extensive Versorgungspraxis hat allen Betroffenen die Zukunft verbaut. Grundrechte wie Bildung, Anhörung, faire Behandlung wurden ihnen vorenthalten. Ich bin deshalb zur Überzeugung gelangt, dass es für den Bereich der Sozialgeschichte der Schweiz etwas ähnliches Umfassendes wie den Bergier-Bericht braucht. Ein ebenso breit angelegtes Gesamtbild darüber, wie die Schweiz damals funktionierte.

n-v: Zusammen mit Erwin Marti hast du die siebenbändige Anthologie mit Werken C.A. Looslis für den Rotpunkt Verlag geschaffen, konzipiert und redigiert. Wie kam es dazu?
F.L.: Am Anfang stand Erwin Marti mit seiner Biografieforschung über C.A.Loosli. Den ersten Band von Martis Biographie habe ich rezensiert und ihn so selber persönlich kennengelernt. Es gab dann Gespräche mit dem Rotpunkt Verlag, und ich wurde für die redaktionelle Arbeit beigezogen, Erwin Marti besorgte die Recherchen als Experte. Der Nationalfonds hat eine finanzielle Unterstützung mit der Begründung abgelehnt, dass C.A.Loosli für ihn keine Priorität habe. Glücklicherweise hat dann ein privater Sponsor dem Verlag hunderttausend Franken für dieses Projekt offeriert. So kam es zu einer befristeten Anstellung mit einem Teilzeithonorar für uns beide über 3 ¼ Jahre für das siebenbändige Werk.

n-v: Welche Bedeutung hat C. A. Loosli als Journalist, Gesellschaftskritiker und Autor für dich?
F.L.: Bei vielen Themen war C.A.Loosli als Nonkonformist und Einzelkämpfer der Zeit weit voraus. Als Publizist stand in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit Forderungen in der Öffentlichkeit, die kaum jemand sonst vertrat, gerade was das Verdingkinderwesen und die Administrativjustiz betraf. Für mich persönlich ist seine Bedeutung als engagierter Journalist und Publizist grösser als jene des Schriftstellers. Wobei er im Erzählerischen – ich denke an „Die Schattmattbauern“ und Mundartbereich etwa mit „Mys Ämmital“ für die Schweizer Literatur Bleibendes schuf.

Interview: Walter Zwahlen

Kurzbiografie:
Fredi Lerch (* 1954) ist Journalist und Publizist in Bern. Zwischen 1982 und 2001 befasste er sich als Redaktor der WOZ regelmässig mit Versorgungspraktiken in der Schweiz (insbesondere mit dem Pro Juventute-Hilfswerk «Für die Kinder der Landstrasse» und mit psychiatrischer Versorgung). Er befasste sich mit der Geschichte der bernischen Nonkonformisten, die sich – auch – gegen die Versorgungspraktiken im Land zu wehren begannen («Begerts letzte Lektion», 1996; «Muellers Weg ist Paradies», 2001). Zwischen 2006 und 2009 war er zusammen mit Erwin Marti Mitherausgeber der siebenbändigen Werkausgabe von C. A. Loosli – der selber Nonkonformist und zu seiner Zeit der bedeutendste Kritiker von Verdingkinderwesen und Administrativjustiz war.