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Londons Findelkinder – Das soziale Elend im 18. Jahrhundert

Helen Berry

Die Historikerin Helen Berry beschreibt in ihrem neuen Buch «Orphans of Empire» («Die Waisen des Weltreichs») das soziale Elend in der Grossstadt, und wie durch die Schaffung einer Institution dieses gelöst werden sollte. Die umfangreiche Studie als Grundlage zu diesem Buch besticht durch eine Fülle von Details zum Empire, zum Handel, zur Industrialisierung, zum Gesellschaftswandel und ist nie beschönigend.

Ein schwieriger Anfang
Der reiche Kolonialist Thomas Coram (1668–1751), welcher als junger Schiffsbauer in Massachusetts USA ein Vermögen gemacht hatte, nach seiner Rückkehr das alltägliche Elend auf den Londoner Strassen nicht verkraften konnte und zur Tat schritt. Für die Obrigkeit war die Begeisterung für dieses Sozialprojekt von Beginn weg ambivalent. Thomas Coram musste sich 17 Jahre lang gedulden, bis er vom König George II. die Erlaubnis erhielt, sein Foundling Hospital zu gründen. Und schlimmer wurde es, als sich die Politik einmischte. In den Jahren 1756 bis 1760 unterstützte das Parlament das Findelhaus finanziell. Deshalb musste das Sozialwerk 15’000 Kinder aufnehmen, was zu chaotischen Zuständen führte. Bis zu zwei Dritteln der Sozialwaisen überlebten diese Zeit nicht. Später ging die Institution wieder in private Hände über, und die Situation verbesserte sich. Bildung und Ausbildungsplätze für die Zöglinge bekamen einen hohen Stellenwert.

Die missliche Lage in der Grossstadt
Hunderte von ausgesetzten Babys, tote und lebendige, fanden sich jährlich in den Strassen Londons. Die ledigen Mütter hatten im 18. Jahrhundert keine Wahl: Ein uneheliches Kind brachte eine unverheiratete Frau in eine existenzielle Krise. London entwickelte sich damals durch die Landflucht von einer Stadt zu einer Metropole, deren Einwohnerzahl sich im 18. Jahrhundert auf 900’000 fast verdoppelte. Aber die Nöte des Einzelnen gingen in dieser Dynamik völlig unter. Mit der Hilfe des Künstlers William Hogarth und des Komponisten Georg Friedrich Händel eröffnete Coram 1741 das Waisenhaus mit dem Namen «Foundling Hospital». Das überbordende Elend ging den Beteiligten ans Herz. Hogarth schuf Bilder mit deren Erlös er zum Gelingen des Projekts beitrug. Händel gab regelmässig Benefizkonzerte seines «Messias», mit denen er Geld sammelte.

   
  Thomas Coram William Hogarth Georg Friedrich Händel  

Der Zufall entschied über das Schicksal
Der Ansturm war so gross. Ein Los entschied über die Aufnahme. Wer Pech hatte, musste zurück in die Gosse. Die glücklichen Mütter jedoch, welche es schafften standen vor einem Dilemma. Sie durfte zu dem abgegebenen Kind keinen Kontakt mehr aufnehmen, auch wenn sie lebenslang Gewissensbisse plagten. Die Babys erhielten einen neuen Namen, wurden kirchlich getauft und medizinisch betreut, dann kamen sie zu Ammen/Pflegeeltern aufs Land, wo sie ein paar Jahre bleiben konnten. Dann kehrten sie ins Waisenhaus zurück und wurden von dort als Lehrlinge in Gewerbebetriebe abgegeben. Für viele Kinder war das die Rettung; andere erlebten jedoch die Hölle, sei es bei den Pflegeeltern oder in der Lehre. Durch die umfangreiche Aktenlage sind diese dokumentiert.

Das Foundling Hospital ist heute ein Museum
Es dokumentiert die Schicksalsgeschichten der Kleinen und des Waisenhauses und steht in Bloomsbury, mitten in London. Am meisten berühren den Besucher kleine Erinnerungen, meist Stofffetzen, welche die Mütter ihren Kindern mitgaben, wenn sie ins Hospital kamen. Diese „Souvenirs“ dienten der Identifikation der Kleinen und versicherten den Müttern, dass ihre Kinder auf ihrem Lebensweg wenigstens ein kleines Andenken an ihre Herkunft hatten.
1838 schrieb Charles Dickens als Betroffener Waise sein Buch Oliver Twist, In welchem das soziale Elend Londons fast hundert Jahre später kaum geringer war.

Walter Zwahlen


Orphans of Empire - The Fate of London's Foundlings, Helen Berry, Oxford University Press 2019, ISBN: 978-0-19-875848-8