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Interview mit Hansjörg Schneider

Hansjörg Schneider

Der Autor und Journalist C.A.Loosli war selber Zögling in mehreren Erziehungsheimen. Trachselwald war äusserst brutal, die anderen unterdrückerisch und pädagogisch verfehlt. Loosli prangerte dieses unmenschliche System in seinen Werken Anstaltsleben und Administrativjustiz an und verlangte Reformen. Hansjörg Schneider hat sich dieser Thematik angenommen und für das Berner Stadttheater das Auftragsstück „Looslis Kinder“ geschrieben, das mit grossem Erfolg, aber leider nur in 6 Aufführungen, im Mai/Juni 2012 auf die Bühne kam.

netzwerk-verdingt: Was bewog Sie zu dieser Arbeit?

Hansjörg Schneider: Das Stadttheater hat mich 2010 angefragt, ob ich ein Theaterstück über die Administrativjustiz, die es damals erlaubte, ohne juristisches Verfahren Kinder in Anstalten einzusperren, schreiben möchte. Ich habe dann einige Werke des Berner Aufklärers C.A.Loosli (1877-1959) gelesen, der als einer der Ersten diese willkürlichen Gewaltmethoden angeprangerte, weil er sie am eigenen Leibe erfahren hatte. Vieles, was er beschreibt, habe ich eins zu eins übernommen. Andere Szenen stammen aus meiner eigenen Jugend. Und einige weitere Szenen sind in Zusammenarbeit mit der Regisseurin, Liliane Heimberg, erfunden.

n-v: Haben Sie selber in Ihrer Kindheit und Jugend dieses Elend der Fremdplatzierung und die damit verbundene Gewalt direkt oder indirekt erfahren?

H.S.: Direkt nicht, nein. Ich bin in einer intakten Familie aufgewachsen. Aber meine Mutter war mit zwanzig ein Jahr lang Lehrerin in der Erziehungsanstalt Kasteln im aargauischen Schenkenbergertal. Sie hat mir davon erzählt. Und neben Zofingen, wo ich aufgewachsen bin, liegt Aarburg mit der alten Festung. Dort waren die sogenannt bösen Buben eingesperrt. Zweimal bin ich bei Bauern Verdingkindern begegnet. Ich musste jeweils um Viertel nach Drei aufstehen und als Erster in den Stall, um auszumisten. Mir war das ziemlich egal, ich wusste, es dauerte bloss eine oder zwei Wochen. Bei meinen Kollegen, den Verdingkindern, hat dies jahrelang gedauert. Ihr Unglück hat mir einen Schrecken eingejagt.

n-v: Wie sehen Sie heute die damalige Mentalität und Haltung von Gesellschaft und Behörden gegenüber den sozial Benachteiligten?

H.S.: Es entsprach der damaligen Zeit. Die Gesellschaft war noch sehr hierarchisch aufgebaut. Fabrikbesitzer, der Herr Oberst, der Herr Nationalrat, der Herr Pfarrer hatten das Sagen. Man hat ja auch die Frauen nicht nach ihren Wünschen gefragt. Man dachte, man müsse die Kinder, die Schwererziehbaren in Anstalten verbessern. Blosse Armut genügte, um jemand einzusperren. Aber auch ein sogenannt liebes Kind, wie ich eines war, wurde terrorisiert. Was mich heute noch wütend macht. Deshalb habe ich auch dieses neue Stück geschrieben.

n-v: Im Stück Looslis Kinder persiflieren Sie auf herrliche Art, die Bürokratie und eine längst überfällige Entschuldigung. Wie sehen Sie die heutigen Behörden, welche diese Schande für die offizielle Schweiz immer noch wie eine heisse Kartoffel vor sich herschieben?

H.S.: Niemand entschuldigt sich gern. Vor allem nicht für etwas, an dem man persönlich keine Schuld hat. Lieber kehrt man es unter den Teppich Das war und ist übrigens überall so in den umliegenden Ländern, nicht nur in der Schweiz. Das war auch so mit den Kindern der Landstrasse, die man den Fahrenden weggenommen hat. Da dauerte es auch lange, bis es zu einer Entschuldigung kam. Entscheidend ist, dass diese dunklen Flecken der neueren Schweizer Geschichte historisch aufgearbeitet und ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt werden. Und dass den betroffenen Opfern nachträglich ihre Ehre und Menschenwürde zurückgegeben wird. In diesem Sinne ist mein Theaterstück ein Zeitstück, das versucht, mit den damaligen Opfern unmenschlicher Erziehungsmethoden mitzutrauern, und ihre Wut und Trauer öffentlich zu machen. Ich habe noch nie auf eine Theateraufführung hin so viele Briefe bekommen wie bei „Looslis Kinder“. Nicht nur von direkt Betroffenen der Administrativjustiz. Alle diese Briefe handeln von der Wut über die erlittenen Erziehungsmethoden.

Interview: Walter Zwahlen
Foto: © Bastian Schweitzer / Diogenes Verlag

Kurzbiografie:
Hansjörg Schneider wurde 1938 geboren und ist in Zofingen aufgewachsen. Er ist wohnhaft in Basel. Er studierte Germanistik, Geschichte und Psychologie. Er schrieb Theaterstücke und Romane. Für seine Werke hat er diverse Auszeichnungen und Preise bekommen. In den letzten Jahren ist er als Autor der Hunkeler-Krimis bekannt geworden.

Theaterstück „Looslis Kinder“:
Das sehr gut inszeniertes Stück mit fantastischen Kindern, Jugendlichen und Profi-Schauspielern begeisterte durch die ausgezeichnete Textvorlage des Schriftstellers und Theaterautors, Hansjörg Schneider. Zusammen mit der Regisseurin, Liliane Heimberg, wurden überzeugend und gekonnt verkürzt die beiden Bände der Anthologie Anstaltsleben und Administrativjustiz von C.A.Lossli in Szene gesetzt. Die Inszenierung machte eine damals übliche beängstigend, brutale, Erziehungsmethode deutlich, wo Kinder gebrochen wurden. Es wäre dem Werk zu gönnen, wenn auch andere Schweizer Städte oder deutsche Theater dieses Stück und diese Thematik zur Aufführung brächten.

Neustes Werk:
Hansjörg Schneider: Nilpferde unter dem Haus; Roman, 224 Seiten, April 2012, ISBN 978-3-257-06807-8.
Über einen Zeitraum von zehn Jahren hinweg hat Hansjörg Schneider Tagebuch geführt. Er notiert Lektüren, Begegnungen, Projekte. Er hält die Glücksmomente fest, die der Tag bringt, und die Alpträume, die ihn in der Nacht heimsuchen. Und immer wieder führt er aus der Gegenwart zurück in die Vergangenheit, die ihn nicht loslässt: seine Jugend im sinnenfeindlichen Mief der fünfziger und sechziger Jahre, die unmenschliche Enge der damaligen Gesellschaft, die tägliche Gewalt, den Drill in der Erziehung, das Leiden unter einem verständnislosen Vater. In der direkten, klaren Sprache protokolliert Hansjörg Schneider sein Leben, seine Ehe, die Theaterwelt, die Möchtegerns und seine Hassliebe zu einer in vielen Bereichen immer noch rückständigen Schweiz.