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Unter Vormundschaft ‒
Das gestohlene Leben der Lina Zingg

Lisbeth Herger

Ein besonders krasser Fall unter vielen leider kaum bekannten. Erst 2010, nach über 50 Jahren «Leibeigenschaft» gelingt es den Töchtern der «Pflegemutter», Linas Bruder und Schwägerin, Lina aus den Klauen der Peinigerin und der Behörden zu befreien. Nicht nur wurde über Jahrzehnte weggeschaut, falsche Diagnosen gestellt, offensichtlichen Unstimmigkeiten nicht nachgegangen, Indizien oder wichtige Befunde weder richtig gedeutet noch in den Akten berücksichtigt, sondern voreingenommen und parteiisch stets die Position von Täterin und Amtsstellen protegiert. Erst die akribische Aktensuche der Autorin Lisbeth Herger zusammen mit Linas Verwandten und Töchtern der Täter und einem Rechtsanwalt offenbarten das Ausmass des Geschehens.

Ein allzu lange vertuschter Skandal in einer Schweiz, die sich gern gegen aussen als besonders humanitär präsentiert. Hinter dem Schein zeigt sich eine grausame, repressive Wirklichkeit voll von Willkür, unzähligen Fehlurteilen und Rechtsbrüchen. Eine üble Geschichte, die so und nicht anders ereignet hat. Zeitzeugen, die man ernst nehmen und hören muss, damit klar wird, dass es stets auch eine andere Wirklichkeit gibt/gab, die man zu lange unter dem Deckel hielt.

Was im Hintergrund geschah

Die Voraussetzungen waren vorhanden, dass die Misswirtschaft mit Mündeln und der Machtmissbrauch so lange funktionierten. Die Devise - aus den Augen aus dem Sinn – prägte die jahrhundertelange, fehlgeleitete Praxis der Fremdplatzierung. Sie blieb extrem lange fast unausrottbar in den Köpfen der Verantwortlichen gespeichert. Eine Abweichung von diesem Prinzip gab es nur in Ausnahmefällen oder kam höchstens unter Druck zustande. Gesunder Menschenverstand hatte dort nichts zu suchen. Die Prüfung/Eignung des Unterbringungsortes sowie regelmässige Kontrollen unterblieben, und glaubwürdige, unabhängige Rechenschaftsberichte fehlten weitgehend oder ganz. Gerade in diesem Fall, wo die Pflegemutter mit einer beispiellosen Skrupellosigkeit, Infamie, Perfidie und Menschenverachtung vorging, hätten bei den Verantwortlichen schon längst alle Warnlampen aufleuchten sollen. Dieselbe Pflegefamilie jedoch mit beiderseitiger brauner aus deutscher und österreichischer Vergangenheit bekam auf eigenes Verlangen ohne weiteres und selbstverständlich ohne entsprechende Abklärung die Schweizer Staatsbürgerschaft. Die Schwächste aber, Lina, verdammte man beinahe zur lebenslangen Unmündigkeit/Rechtlosigkeit. Ihre Anhörung wurde jahrzehntelang hintertrieben, unterlassen, die Akteneinsicht gezielt verhindert und verweigert. Den Tätern, die wiederholt falsches Zeugnis ablegten, dagegen der Teppich ausgerollt. Denjenigen aber, welche Lina aus ihrer unverschuldeten Sklaverei befreien wollten, legten Ärzte, Psychiater und Amtsvormundschaft über Jahre unzählige juristische Hindernisse in den Weg, verdächtigten sie vielmehr sogar, sich hinter unlauteren Beweggründen zu verstecken. Auch eine legitime Aufsichtsbeschwerde, von Linas Bruder eingereicht, wurde ausgehebelt. Linas Bevormundung ist ein Paradestück von Schlamperei, Ignoranz, unzähligen Regel- und Rechtsverstössen, Druckversuchen, Mobbing, Einschüchterungen und falschen Zeugnissen. Erst die akribische Aktensuche der Autorin zusammen mit Linas Verwandten und Töchtern der Täter und einem Rechtsanwalt offenbarten das Ausmass des Geschehens, welches sich nicht vom Schicksal eines Verdingkindes in den schlimmstmöglichen Verhältnissen unterscheidet. Das offizielle St. Gallen unternahm nie einen Schritt, die beispiellose Willkür zu verurteilen.


Unter Vormundschaft ‒ Das gestohlene Leben der Lina Zingg,
Lisbeth Herger, Verlag Hier und Jetzt, 2016

Kurzinhalt:
1958 wird Lina Zingg als 18-Jährige in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Der damals gängigen Doktrin folgend wird Lina als debil und schizophren abgestempelt. Einige Monate später vermittelt man sie, nach einer fragwürdigen Therapie – mit der Diagnose Schwachsinn versehen – als Hausangestellte an eine Familie. Dort verbleibt und arbeitet die Rheintaler Bauerntochter während über 50 Jahren ohne Frei- und Ferientage im Haushalt, wird misshandelt und sexuell missbraucht. Die Hausherrin drängt auf Entmündigung, macht aus der Dienstmagd einen Betreuungsfall und kassiert und veruntreut Linas Unterstützungsgelder. Die Zürcher Behörden werden erst 2011 aktiv, nachdem die Töchter der Täterin einschreiten und eine Gefährdung melden. Die Geschichte der Lina Zingg (Pseudonym) ist auch die Geschichte einer Versklavung in gutbürgerlichem Milieu. Auf der Basis umfassender Recherchen erzählt Lisbeth Herger, wie Pfarrer, Arzt, Psychiatrie und Vormundschaftsbehörde nacheinander versagten. Lina Zingg hatte in diesem System nie den Hauch einer Chance. In ihrer Biografie kommen die wesentlichen Grundmuster der Schweizer Psychiatrie- und Vormundschaftsgeschichte als Machtapparat zutage.

Text: Walter Zwahlen