Zeitzeugen


Boris Scavezzon

Im Jahr 1964 erblickte ich in Zürich das Licht der Welt. Meine Eltern, welche beide aus Norditalien stammten, kamen Mitte der 1950-Jahren in die Schweiz und lernten sich hier kennen und lieben. Wir wohnten zu viert in einer 3-Zimmer-Wohnung in Zürich-Wiedikon. In meinen jungen Jahren fing die Zeit von und mit Schwarzenbach an, dessen Initiative im Jahr 1971 knapp vom Schweizervolk abgelehnt wurde. Meine Eltern fürchteten diese Abstimmung, da sie nicht wussten, wohin sie mit ihren zwei kleinen Kindern hinziehen sollten, falls man sie aus der Schweiz fortjagen würde. Ihre Ängste spürte ich, verstand den Grund jedoch nicht. Der Ausdruck Tsching begleitete mich tagtäglich in jenen Jahren inklusive der Zusatzbemerkung, dass meine Eltern dumm seien, da sie nicht richtig Deutsch sprachen. Mit der Zeit fing ich an, die Kinder abzuschlagen, welche meine Familie beleidigten.

Ich kam in die Sonderschule und hätte auch nach der zweiten Klasse in der Sonderschule bleiben müssen. Meine damalige, beschränkte Schweizer Lehrerin war der Ansicht, dass ich nicht fähig sei, in eine normale Klasse zu wechseln. Tatsächlich stand in meinem Sonderschulzeugnis in Rechnen und Schreiben ein knapp befriedigend drin, mehr Noten gab es nicht. Ein Schulpsychiater, an dem ich mich sogar noch heute erinnern kann, war zwar der Ansicht, dass ich durchaus in die normale Klasse gehen könne, doch seine Einschätzung wurde offensichtlich nicht beachtet.

Per Zufall lernte mein Vater einen Arbeitskollegen kennen, welcher seine Kinder in ein Kinderheim in Näfels schickte, das von Schweizer Nonnen geleitet wurde. Tatsächlich durfte ich im Kanton Glarus die normale Klasse besuchen und war "plötzlich" ein guter Schüler. Allerdings musste ich mich zum ersten Mal in meinem Schulleben anstrengen und begriff, dass man an der Schule tatsächlich etwas lernen konnte, wenn es sich nicht um eine Sonderschule handelte! Jahrzehnte später erzählte mir meine Mutter, dass sie eines Tages einen Anruf der Sonderschullehrerin erhalten habe, die ihr vorschlug, ich solle doch wieder nach Zürich kommen. Allerdings müsse ich dann wieder die Sonderschule besuchen, doch sie würden "gut" zu mir schauen. Meine Eltern lehnten ab und meine Mutter verbrannte mein Schulzeugnis aus Wut und ich habe es mir Jahrzehnte später wieder ausdrucken lassen. An dieser Stelle soll erwähnt werden, dass das Kinderheim nicht gratis war und meine Eltern für mich bezahlen mussten. Als Maler und Näherin verdienten sie nicht so viel, doch sie stemmten es. Sie strahlten jedes Mal, wenn sie mein Zeugnis sahen, denn ich hatte einen Schnitt zwischen einem 4,5 und 5. Andererseits stritten sie sich regelmässig über Geld.

In Näfels lernte ich sogar noch etwas Neues kennen. Wir Heimkinder wurden als "Heimkinder" betrachtet. Nicht ganz vollwertig, um es nett zu beschreiben. Dabei bestand kein Unterschied, ob ein Heimkind aus Italien oder aus der Schweiz stammte. Das überraschte mich, denn bis zu meinem Umzug nach Näfels dachte ich immer, dass die Schweizer einzig etwas gegen Italiener hatten. Die Schweizer schienen auch etwas gegen gewisse Schweizer zu haben? Viele dieser Schweizer Heimkinder wurden meine Freunde und förderten mich oftmals, wie ich sie.

In der sechsten Klasse erhielten wir einen Lehrer namens Müller. Die seiner Ansicht nach intelligentesten Schüler sassen in der hintersten Reihe (ich sass dort) und die, welche ihm unsympathisch waren, allein in den vordersten Reihen. Einem etwas molligeren Jungen sprach er immer mit Kartoffelsack an, dieser Junge wurde mein Freund und ich bemerkte, dass er sehr darunter litt. Am Ende der 6. Klasse mussten alle eine kantonale Prüfung ablegen. Wer eine Note zwischen einer 4,5 und 5 machte und im Zeugnis ebenfalls diesen Notenschnitt hatte, der durfte in die Sekundarschule und ich schaffte es. Allerdings gab es in Näfels dazumal auch eine Klosterschule für Knaben und dort musste man nochmals eine Aufnahmeprüfung absolvieren. Einige meiner Heimkollegen rieten mir von der Klosterschule ab, welche sie besuchten. Die Begründung: Wer mit Nonnen zusammenleben muss, der muss nicht auch noch zu Mönchen in die Schule gehen! Es genügte, dass ich mit dieser Überzeugung zur Prüfung ging, um als Einziger von Näfels die Prüfung zur Klosterschule deutlich nicht zu bestehen. Was für eine Schande aus Sicht der Nonnen und was für eine Freude aus meinem Blickwinkel. Dazu erhielten wir Knaben eine neue Nonne, die mir (und ich ihr) gar nicht passte. So kam es, dass ich sowohl aus der Sekundarschule als auch aus dem Kinderheim herausflog. Es hiess, entweder sie (die Nonne) oder ich müsse gehen und die Wahl fiel nicht ganz zufällig auf mich.

Nach fünf Jahren Kinderheim kam ich deshalb noch für knapp drei Jahre in ein sogenanntes katholisches Knabeninstitut namens Alpine Schule Vättis. Die Schule stand neben dem Wohnhaus und aus heutiger Sicht würde man von einem (dreijährigen) Lockdown sprechen, und zwar ein deutlich strengerer als der, welcher während der Coronazeit in der Schweiz herrschte. Dieses kleine Detail bemerkte niemand ausser den Insassen! In der Sekundarschule war ich wieder gut und meine Französischaufgaben wurden mindestens von der Hälfte der Klasse abgeschrieben. Meine Klasse ging als die schlimmste Klasse in die Annalen ein. Tatsächlich buhten wir mal einen Lehrer aus und sangen "Grappa a la mela" (Originallied unter dem Titel "Guantanamera" bekannt), um seinen Alkoholkonsum respektive -fahne musikalisch zu untermauern. Ein Aufpasser schlug mich einmal vor der Klasse, weil ich auf seinem Spruch, dass ich ihn mit meinen langen Haaren nicht mal vor der Wandtafel stehen sähe, antwortete, dies mache nichts, da ich dadurch einen Idioten weniger sähe. Des Weiteren gab es einen Mathematiklehrer, den wir "Knacki" nannten. Er litt unter Muskelschwund, wenn ich mich nicht irre und schlug gerne und häufig zu, mich schlug er übrigens nur einmal. Ansonsten beleidigte er, die seiner Meinung nach dummen Schüler mit dem Spruch, dass ihr Hirn einzig als Haarwasser tauge. Ein Gegensatz dazu bildete der Geschichtslehrer, welcher unter Knochenschwund litt und stolz darauf war, dass er einen oder zwei Zentimeter grösser als Napoleon war. Er verhielt sich trotz Krankheit fair und da mir Geschichte schon immer gefiel, lernte ich gerne und mit der Zeit lernte fast die ganze böse Klasse 2b mit mir. In diesem Fach wurden wir sogar ausnahmsweise besser als die Parallelklasse. Was sich gewisse Lehrer leisteten, das bemerkte einmal mehr niemand und der Leiter sah sich gerne als Onkel, so wollte er auch angesprochen werden - wie Jahrzehnte früher ein gewisser Herr Mengele.

In der dritten Sekundarschule hatte ich einen Notenschnitt von 5 und wollte in Zürich eine kaufmännische Lehre anfangen. Im Jahr 1981 kehrte ich in diese Stadt zurück, doch ein ehemaliges Heimkind wollte keiner einstellen, obwohl mir dies nur jemand direkt sagte. Ich empfand diese angeblich freie Welt als unfrei, weil meiner Ansicht nach fast alle Menschen ihre Gefühle hinter einer Fassade versteckten. Meiner Meinung nach hätte eine freie Welt aus Menschen bestehen müssen, die offen durch die Welt laufen und das war offensichtlich nicht der Fall. Per Zufall und dank eines Personalleiters, der nur noch auf seine Pension wartete und sehr spät reagierte, fand ich mit Verzögerung doch eine Anstellung als kaufmännischer Lehrling.

In Zürich gab es dazumal auch noch die Jugendbewegung und ich liess irgendwann auch meine Haare länger wachsen. Als ich eines Tages wieder einmal zu spät in die Schule ging, sprach ein Lehrer, ob ich im AJZ übernachtet hätte? Ein Schulfreund antwortete ihm, dass das nicht sein könne, weil er mich dort letzte Nacht nicht angetroffen habe. Ich beendete diese Ausbildung ungern und arbeitete in den nächsten Jahren meistens temporär in Buchhaltungen verschiedener Firmen. Sich immer wieder anzupassen, brachte mich persönlich weiter und machte mich besser.

Eines Tages arbeitete ich mit einem Studenten der Uni Zürich zusammen und erzählte ihm, dass ich auch gerne studieren würde. Er gab mir den Tipp, dass ich doch die KME (Kantonale Maturitätsschule für Erwachsene) in Zürich besuchen solle. Ich kannte die Schule nicht, doch meldete mich an. Man muss bei der Aufnahmeprüfung zwei Fächer bei höchstens zwei Versuchen bestehen, und zwar Mathematik und Französisch. Mathematik bestand ich im ersten Anlauf und Französisch im zweiten Anlauf, da es mehr als zehn Jahre her war, seit ich das in der Schule hatte.

Ich traute mir das Gymnasium eigentlich nicht zu, doch wurde eines Besseren belehrt. Dies machte mich auf das Schweizer Schulsystem wütend (welche mich zu einer schulischen Odyssee gezwungen hatte, auf die ich sehr, sehr gerne verzichtet hätte und mir die schlimmsten Jahre meines Lebens bescherte) und auf mich selbst, der es zu lange nicht begriffen hatte, dass ich fähig dazu war. Ich beschloss, diese Schule mit dem absoluten Minimalschnitt von 60 Punkten abzuschliessen. Das schaffte ich mit 61 Punkten nicht ganz. Hinzufügen möchte ich, dass ich auch mit der richtigen Einstellung höchstens um die 70 Punkte erreicht hätte.

Meine Berufswünsche umfassten Sonderschullehrer, Geschichte oder ein Önologiestudium. Ich entschloss mich für das dritte und es sollte sich als schlechte Wahl erweisen. Möglicherweise sollte man seine Passion nicht immer zum Berufswunsch machen. Letztlich habe ich dieses Studium nicht abgeschlossen. Später wurde meine Mutter schwer krank und ich wollte ihr helfen. Zwar werden wir alle einmal sterben, doch die Frage lautet, wie und dies kann einen Unterschied ausmachen. Leider kam kein Team zustande, dass meiner an Brustkrebs und Demenz erkrankter Mutter gemeinsam helfen wollte. Sie kam in ein geschlossenes Pflegeheim an der "Paradiesstrasse" (Vorhöllenstrasse würde es zutreffender beschreiben) in Zürich. Sie fragte mich bei meinen Besuchen oft, was sie verbrochen habe, dass man sie in ein Gefängnis geworfen hatte. Sie erlebte also kurz vor ihrem Tod, was ich als Kind erfahren durfte, ohne sich dessen bewusst zu werden. Kinder und kranke ältere Menschen sind die verwundbarsten Personen, nicht nur in der Schweiz!

Später schlug mir eine Kollegin vor, doch an der Universität Zürich ein Geschichtsstudium zu beginnen. Stand 2023 steht mir noch eine zu schreibende Seminararbeit im Weg, bevor ich mit der Bachelorarbeit beginnen darf. Auf was ich mich spezialisieren will, das sollte jeder und jedem klar sein...

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Bilder: zvg