Zeitzeugen

 
Uschi Waser

Kindheit und Jugend
Ich wurde am 13. Dezember 1952 in Rüti im Kanton Zürich geboren. In den Akten steht, dass ich zuerst in eine Pflegefamilie und dann ins Kinderheim Friedheim ebenfalls in Rüti kam. Als Tochter einer Jenischen (so wurden die Fahrenden in der Schweiz bezeichnet und den Zigeunern gleichgesetzt) wurde für mich durch den Leiter des Hilfswerks Kinder der Landstrasse der Pro Juventute, Herrn Siegfried, am 2. Juni 1953 eine Vormundschaft verfügt. Der Makel einer verfemten Minderheit anzugehören, verfolgte mich über lange Jahre. Im gleichen Jahr folgte eine Pflegefamilie in Samedan im Kanton Graubünden.

Im Juli 1953 kam ich zuerst ins Kinderheim St. Ursula in Deitigen im Kanton Solothurn. Von dort verpflanzte man mich ebenfalls 1953 ins Kinderheim La Margna in Celerina im Kanton Graubünden. Im März 1954 wurde ich dort wieder abgeholt und ins Kinderheim Auf Berg in Seltisberg im Kanton Basel-Land gebracht. Bereits im September 1954 kam ich zurück ins Kinderheim La Margna in Celerina. Zwei Jahre später im September 1956 gelangte ich zuerst zur Mutter und dann ins Tagesheim der Statt Basel. Schon im Oktober 1956 wurde ich zum dritten Mal ins Kinderheim La Margna in Celerina zurückspediert. Im Dezember 1959, als ich sieben Jahre alt war kam ich in eine Pflegefamilie in Oberrieden im Kanton Zürich. Einige Zeit zog die Pflegefamilie mit mir nach Weesen im Kanton St. Gallen. Im Januar 1961 war das Kinderheim Hofbergli in Rehetobel im Kanton Appenzell Ausserrhoden meine nächste Station. Im Juni 1961 hiess die weitere Etappe Erziehungsheim Burg in Rebstein ebenfalls im Kanton St. Gallen. Anderthalb Jahre später im Juli 1962 kam ich ins Erziehungsheim Lindenhof in Churwalden im Kanton Graubünden. Im Mai 1963 gab es einen erneute Verschiebung zu einer Pflegefamilie nach Taverne ins Tessin. Nach nur sechs Monaten nahm man mich dort schon wieder weg und brachte man mich ins Erziehungsheim Jung Rhy in Altstätten im St. Galler Rheintal. Fast ein Jahr später im Oktober 1964 wurde das Bürgerheim Ibach im Kanton Schwyz für einige Monate meine neue Bleibe. Und im Juli 1966 wurde das Altersheim in Obervaz im Kanton Graubünden als neues Domizil ausgewählt. Aus Obervaz stammen viele der Schweizer Jenischen. Im Dezember 1966 kehrte ich nach Altstätten zurück, wo ich bis im April 1971 im Heim zum Guten Hirten festsass. Insgesamt wurde ich in all diesen Jahren 25 Mal umplatziert.

Durch diverse Fluchten, Spitalaufenthalte, Rückkehr zur Mutter, vorübergehende Krippenplätze erhöhte sich die Zahl meiner Aufenthaltsorte gegen 50. In all den Jahren war die Pro Juventute immer bemüht alle Verbindungen zu den Geschwistern, der Mutter und den Verwandten zu kappen. Bis zu meinem 18. Lebensjahr hat mich offener Rassismus durch alle Heime, Schulen und Anstalten in Form von Schimpfwörtern und Vorurteilen begleitet. Ich erinnere mich an die Ohnmacht, die ich dabei immer wieder empfunden habe.

Durch meine Heirat mit 19 Jahren wurde ich wenigstens endlich meinen Nachnamen, der so typisch jenisch war, los. Obwohl auch mein Ehepartner Jenischer war, wohnten wir unbehelligt als „Sesshafte“ in einer Wohnung. Nach der Scheidung meiner ersten Ehe bin ich in eine andere Landesgegend gezogen, aber dort erneut mit Rassismus konfrontiert worden. Ich habe damals meiner Tochter verboten, in der Schule und bei Freunden über meine Herkunft zu sprechen. Sie sollte nicht leiden müssen wie ich in meinem Leben und, was mir viel wichtiger war, die gleichen Chancen wie andere Kinder haben. Nur unserem engsten Freundeskreis war unsere „Herkunft“ bekannt.

Als ich vor Jahren aus meinen Akten erfahren habe, wer die Drahtzieher gewesen sind, habe ich mein Schweigen gebrochen. Ich stehe heute voll und ganz zu meiner Herkunft und kämpfe dafür, dass das an uns als Kinder begangene Unrecht mit allen Konsequenzen aufgearbeitet wird. Nach und nach sammelte sich bei mir ein Aktenberg von rund 3’500 Seiten an. In Kenntnis meiner Geschichte und mit dem Wissen, wer die Drahtzieher der Aktion „Kinder der Landstrasse“ und der behördlichen Massnahmen waren, habe ich mich mit dem geschehenen Unrecht auseinandergesetzt und mein Schweigen gebrochen.

Ziele
Schwererziehbarkeit, Vagantentum, krankhafte Lügenhaftigkeit, und sexuelle Triebhaftigkeit waren die Vorurteile, die uns in frühester Kindheit entgegengebracht wurden und in die Akten gelangten. Dadurch wurden wir unserer Kindheit beraubt und um unsere Jugendzeit betrogen, sowie die unabhängige, vorbehaltlose und gerechte Beurteilung durch alle Gerichte und Instanzen verhindert. Wir wollen und brauchen eine vollumfängliche Rehabilitation inklusive der Aktenberichtigung mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen.

„Ich kämpfe dafür, dass das an uns Kindern begangene Unrecht mit allen Konsequenzen aufgearbeitet wird!“

Viele der administrativ versorgten Menschen litten nicht nur unter den damit verbundenen Zwangsmassnahmen. Häufig wurden sie auch sexuell missbraucht, leider wurden aber nur in wenigen Fällen Strafverfahren gegen die Täter eingeleitet. Es muss davon ausgegangen werden, dass auch die Strafjustiz mehrheitlich zum Nachteil der Opfer versagt hat, und die Täter ungeschoren davonkommen liessen. Es gilt deshalb, nicht nur das Verhalten und begangene Unrecht der zivilen Behörden im Fürsorgewesen abzuklären, sondern auch das der damaligen Strafjustiz..

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Foto:
KEYSTONE/Peter Klaunzer